Sie seufzt schließlich und geht hinter den Schreibtisch, der immer noch genauso angerichtet ist, wie vor all den Jahren. Das Büro ist in einer Zeitblase gefangen, denke ich und mit einer dicken Staubschicht bedeckt. All die Bücher und Ordner, Dokumente und Papiere, die sich überall stapeln.
Ich hätte jetzt gerne erzählt, dass ich etwas Unglaubliches entdeckt habe. Etwas, was natürlich niemand zuvor gefunden hatte. Aber leider weiß ich, dass alles mehrfach durchsucht worden ist - sogar der Mülleimer.
Meine Mutter scheint irgendwas zu suchen und hält es schließlich triumphierend in die Höhe.
»Du darfst mit niemandem darüber reden.«
Ich nicke ihr zu und frage mich immer noch, in welchem Film ich gerade bin.
»Der Chef deines Vaters hatte sich selbst hier umgesehen und stundenlang nach Hinweisen gesucht.
Er erzählte mir, dass Paul irgendetwas aufgedeckt hatte und damit etwas ganz Großes ins Rollen brachte.«
»Ja, und? Manchmal muss man eben aufräumen. Wenn er was entdeckt haben sollte, dann wird er sicherlich auch Unterstützung bekommen haben, oder?«
»Eben nicht. Hier schau.« Sie reicht mir einen Ausweis mit seinem Foto darauf. Ich lese den Namen. Noch einmal. Da lag ich mit James Bond gar nicht so verkehrt. Er hat für eine Organisation gearbeitet, von der ich glaubte, sie sei nur erfunden oder ein Mythos.
»Das glaub ich jetzt nicht! Er hat wirklich dafür gearbeitet? Für die HRoFO?«
Die HRoFO steht für die ›Historical Real or Fiction Organisation‹, eine Organisation, die sich mit historischen Fehlmeldungen beschäftigt. Eigentlich hab ich immer geglaubt, sie sei nur ein Märchen. Wie soll man denn Mythen auf den Grund gehen? Das klappt doch nur, wenn man ... Ja, wie soll das funktionieren? Und was hat mein Vater damit zu tun?
Sie nickt und ein Schatten legt sich auf ihr Gesicht.
»Es hieß damals, irgendjemand hat einen Anschlag geplant und dein Vater wollte alles daran setzen, dass man die Strippenzieher dingfest macht. Aber die Liste an Verrätern war lang und scheinbar war auch ein sehr mächtiger Mann darunter.«
»Und der hätte meinem Vater das Leben zur Hölle gemacht?«, schlussfolgere ich. Sie nickt und ich muss weiter überlegen. »Moment mal, was hat das mit dieser Organisation zu tun? Geht es da nicht um die Vergangenheit?« Nun verstehe ich wirklich nichts mehr.
»Ja und nein. Es geht auch darum, dass man etwas in der Gegenwart verhindert, damit man in der Zukunft kein böses Erwachen hat.«
Was? Meine Mutter scheint es ernst zu meinen, aber ich kann sie nur anstarren. Was hat sie erzählt? Das ergibt keinen Sinn. Sie muss gemerkt haben, dass mich ihre Erklärung total verwirrt hat, denn sie fügt hinzu: »Mel, es gibt sehr viel mehr, als du kennst. Die Geschichte verläuft nicht immer so, wie wir sie kennen. Manchmal muss jemand eingreifen, um das zu verhindern.«
»Woher will man wissen, was in der Zukunft geschieht?«
Ich muss mich setzen, mir wird das alles einfach zu viel. Ich ziehe den Stuhl vom Schreibtisch zurück und lasse mich darauf nieder. Mir fällt auf, dass ich noch nie so lange in diesem Raum war, der mir plötzlich so klein und eng vorkommt. All die Bücher strömen keine Vertrautheit mehr aus, sondern beengen mich. Sie wissen mehr, als sie zugeben und es macht mich fertig, es nicht zu erfahren. Meine Mutter weiß auch mehr, sie scheint sich dagegen wehren zu wollen.
»Ich kann nichts weiter dazu erzählen«, gibt sie zu. Was habe ich euch gesagt?
»Verstehe ich das richtig: Dad ist durch einen Taschenspielertrick aus dem Zimmer verschwunden, damit jeder glaubt, er habe sich einfach in Luft aufgelöst. Er hat heimlich für die ›Historical Real or Fiction Organisation‹ gearbeitet, hat einen Komplott aufgedeckt, einen Anschlag verhindert und irgendjemand fand das gar nicht so toll und er ist deshalb verschwunden? Und diese Organisation verhindert, dass in der Gegenwart etwas geschieht, was die Zukunft beeinflussen könnte?« Ich bekomme Kopfschmerzen. Ich will doch nur Antworten und erhalte noch mehr fragen. Mensch, das nervt! Während ich beginne meine Schläfen zu massieren, beobachte ich meine Mutter. »Habe ich was vergessen?«, frage ich gereizt.
»Ach Süße, du verstehst das einfach nicht. Es steckt etwas mehr dahinter.«
»WAS? ERKLÄR ES MIR!«, brülle ich.
»Das kann ich nicht. Es steht mir nicht zu.«
Ich kann diese Unterhaltung nicht mehr weiterführen. Es bringt nichts und ich würde nur etwas sagen, was ich später bereuen werde. Es ist nicht ihre Schuld. Sie scheint ebenso Angst zu haben. Ich werde es schon noch herausfinden, ganz bestimmt.
Wortlos stehe ich energisch auf, schiebe den Stuhl dabei so weit zurück, dass er an die Wand hinter mir kracht und laufe an meiner Mutter vorbei.
»Melanie«, höre ich sie noch sagen, aber ich ignoriere es.
Dann muss Google herhalten. Ich setze mich an den Schreibtisch und nehme einen Stift und Zettel, um mir eventuell Notizen zu machen. Aber das ist überflüssig, wie ich schnell herausfinde.
HRoFO
Abgesehen von ein paar Twitter Namen, die diese oder eine ähnliche Abkürzung haben, gibt es nichts Interessantes dazu.
Historical Real or Fiction Organisation
Auch hier gibt es nichts zu. Jedenfalls nichts, was für mich relevant wäre. Viele Beiträge über Realität und Fiction tauchen auf, aber das, was ich wissen möchte, erfahre ich nicht.
Gibt es diese Organisation dann doch nicht? Google weiß doch alles, oder?
›Bing‹ zeigt mir übrigens noch seltsamere Sachen an.
Ich werde jetzt nicht noch ›Yahoo‹ oder andere Suchmaschinen befragen, denn es scheint eindeutig zu sein: Sie gibt es nicht.
Oder?
Es ist wie mit Area 51 in Nevada, USA: Man kennt es, es gibt viele Gerüchte darüber, aber es ist eigentlich nur ein militärisches Sperrgebiet. Dabei glauben viele, dass in Roswell 1947 ein UFO dort gelandet ist.
Ich schweife schon wieder ab, dabei will ich nichts über Aliens recherchieren, auch wenn ich tatsächlich glaube, dass wir nie und nimmer alleine in den unendlichen Weiten des Universums sein können.
Genervt klappe ich den Laptop wieder zu und schmeiße mich auf mein Bett, wo mein Handy auf mich wartet. Ich komme so nicht weiter und das ärgert mich. Ich öffne Instagram und versuche wieder etwas herunterzukommen.
Privatnachricht von Julian.
Juliansbookland
*Wie geht es dir? Habe deinen Kommentar unter dem Video gesehen.
Dein Buch gefällt mir wirklich.
Was ich dich fragen wollte, hat deine ›Alice im
Wunderland‹ Ausgabe im inneren, auf Seite 343
etwas stehen, was nicht dahin gehört? *
Marinettesbookland
*Mir geht es ...*
Was soll ich denn dazu schreiben? Ich schnappe mir erst einmal das Buch, was sowieso noch vor mir liegt. Schlage die Seite auf, die er mir genannt hat, und ziehe erstaunt so scharf die Luft ein, dass meine Zähne schmerzen. Verdammt.
*... soweit ganz gut. Danke.
Ich hab ... *
Ich frage mich, warum er ständig auf das Buch zurückkommen muss. Was hat es damit auf sich?
Irgendwas muss er wissen oder verbergen. Oder werde ich jetzt paranoid? Was könnte ich antworten ...?
*Ich hab weiß nicht, was du meinst. Tut mir leid. Hab leider nichts gefunden.
Was genau suchst du?*
Juliansbookland
*Danke fürs Nachsehen. Ich hab ein paar Zahlen entdeckt und dachte, bei dir könnten auch welche
Sein. Aber vielleicht hat sie auch jemand einfach so ins Buch geschrieben. Wer weiß, woher meine Mutter
es hat und wer es vorher schon hatte.*
Ich fasse es nicht. Das kann kein Zufall mehr sein.
1310
Ob ich es vielleicht doch riskieren soll?
Marinettesbookland
*Was steht denn drin? Vielleicht gibt es ja eine Erklärung oder irgendjemand hat einen Code geschrieben. Ein Rätsel oder so.
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