Ich stehe auf und suche mir ein anderes Versteck, da ich vermute, sie würde als Erstes in der Gegend schauen, in der ich so komisch gesessen habe.
Suchend lasse ich den Blick durch mein Zimmer schweifen. Die beste Stelle ist in meinem Bücherregal. Denn dort würde sie nie nachschauen. Sie weiß, wie wichtig mir meine Bücher sind.
Tiefdurchatmend schnappe ich mir mein Handy und gucke, solange sie telefoniert, ob es was Neues gibt. Die Musik, die schon die ganze Zeit läuft, nervt mich gerade, also stelle ich eine andere Playlist an und entspanne mich einwenig. Der Gedanke, dass etwas nicht stimmt, lässt mich nicht mehr los. Ich will es wissen und hasse es, nicht schon früher angefangen zu haben.
Fragen stellen, neugierig sein.
Aber was ist, wenn etwas so Furchtbares passiert war, dass es mich entzweien würde?
Schlimmer als der Gedanke an das Monster, meint ihr?
Ja, das stimmt. Aber Monster existieren nicht, jedenfalls nicht solche, die ich mir vorstelle. Aber ein Monster verbirgt sich oft hinter einem ganz normalen Gesicht. Ein Monster erkennt man erst, wenn es fast schon zu spät ist. Wenn es etwas gemacht hat, was man nicht mehr rückgängig machen kann. Wenn es Wert ist, in den Nachrichten erwähnt zu werden.
Das Verschwinden meines Vaters war zwar einige Wochen Thema in den Zeitungen und auch im Fernsehen gab es Sondersendungen, aber das war es auch. Keine Spuren, keine Beweise. Ich wurde befragt, beschattet und meine Mutter sowieso. Jeder im Umfeld. Aber auch das verging und danach hat es niemanden mehr interessiert.
*
Mein Vater ist aus einem verschlossenen Raum verschwunden.
*
In meinem Buch ›Das mysteriöse Mädchen: Die unsichtbare Retterin‹ kann sich meine Protagonistin Ariane unsichtbar machen und so aus jedem Raum nach Belieben verschwinden. Sie kann durch Wände gehen und so bleibt sie unentdeckt. Aber mein Vater ist kein Superheld. Er kann so etwas nicht, auch wenn ich mir wünschen würde, dass dies seine Erklärung ist. Das er die Welt retten musste und uns deshalb verlassen hat.
Ich habe damit nicht abgeschlossen, aber ich kann einfach nicht mehr. Versteht ihr das? Jahrelang hab ich auf ihn gewartet, hab gehofft, er würde eines Morgens in der Küche sitzen, seinen Kaffee trinken und mir lächelnd einen ›Guten Morgen‹ wünschen. Ich würde ihm alles verzeihen, wenn er nur wieder da wäre.
Wenn ich wüsste, dass es ihm gut geht.
Aber ich weiß nichts.
Um auf andere Gedanken zu kommen, öffne ich schließlich Instagram und bekomme direkt die Meldung, dass mich jemand verlinkt hat.
@juliansbookland
*Wow, puh. Ich habe gerade ›Das mysteriöse Mädchen: Die unsichtbare Retterin‹ von @marinettesbookland gelesen und bin überaus überrascht und begeistert.
Gut gemacht, liebe Marinette.
Alles dazu auf meinem Blog und auf YouTube.*
@marinettesbookland
*Vielen lieben Dank Julian. Bin gespannt, was du auf deinem Blog geschrieben hast und du im Video erzählen wirst.*
Schnell klicke ich auf den Link in seiner Info und lese mir die Rezension durch. Ausführlich und gut geschrieben hat er sie. Mein Herz hüpft und ich bin voller Schmetterlinge in meinem Bauch, als ich einen weiteren Link öffne, um mir sein YouTube Video anzusehen.
Dieses Mal ist er komplett umhüllt vom Schatten und ich frage mich, wie er das hinbekommt. Ihm scheint das Buch wirklich zu gefallen, denn er spricht sehr euphorisch darüber. Es macht mich stolz und am liebsten würde ich ihn direkt umarmen.
Ich frage mich allerdings ...
Wenn der Junge von heute Nachmittag, Justin, mit diesem Julian hier gesprochen hat, dann wird er nun wissen, wer ich bin. Ja, es gibt solche Zufälle und natürlich muss es nichts bedeuten.
Aber was, wenn doch?
Wäre das wirklich so schlimm? Da bin ich mir nicht sicher. Ich schnappe mir meine ›Alice im Wunderland‹ Ausgabe und betrachte sie gedankenverloren.
Schnell schreibe ich etwas unter das Video und tippe ein paar Wörter direkt zu ihm via Instagram.
Ich muss mehr erfahren. Über alles.
Es klopft an meiner Tür und reißt mich so aus meinen Gedanken.
»Was machst du?« Ich hab gar nicht gemerkt, dass sie fertig ist mit reden und bin gespannt, was sie mir zu sagen hat.
Ich halte meiner Mutter das Buch hin und füge hinzu:
»An meinen Vater denken.«
»Du vermisst ihn, oder?«
»Manchmal schon«, sage ich schulterzuckend und beobachte ihre Reaktion. Doch sie nickt nur. »Hast du dich nie gefragt, warum er verschwunden ist? Der Raum war doch von innen verschlossen. Wie konnte er denn entkommen?« Ich muss all meinen Mut zusammennehmen, doch wir müssen endlich darüber sprechen. Sie kommt näher und setzt sich zu mir.
»Und kannst du dir nicht vorstellen, dass man mit ein paar Taschenspielertricks auch eine Tür so verschließen kann, dass jeder glaubt, man hätte sich in Luft aufgelöst?« Ich starre sie an und schüttle mit dem Kopf. »Na gut, dann komme mit. Ich zeig es dir.«
Gespannt folge ich ihr und wir gehen zu Dads Büro.
Sie holt den Schlüssel, den sie in ihrem Zimmer aufbewahrt und hat noch etwas anderes in ihrer Hand.
»Was willst du mit dem Draht?«
»Wirst du gleich sehen.« Sie schließt die Tür auf, nimmt den Schlüssel, wickelt den Draht um den Bart, zieht den Draht durch das Schlüsselloch und der Schlüssel wird automatisch eingeführt. Ich bin sprachlos, darauf wäre ich nie gekommen.
Doch, Moment ...
»Na ja, das ist ja sehr schön«, sage ich, »aber wie konnte er sie abschließen?«
»Auch darüber hab ich lange nachgedacht und es oft versucht.« Sie kniet sich hin und konzentriert sich auf ihre Aufgabe. Auch ich geh in die Hocke und beobachte sie genau. Sie hat den Draht seltsam gebogen und fummelt nun umher. Plötzlich macht es klick und ich sehe, wie die Verriegelung nach vorne schnallt. Unfassbar.
6. Eine Geheimorganisation, wirklich?
»Keine Monster. Keine Magie«, sage ich mehr zu mir und doch sieht sie mich irritiert an. »Als ich noch ein Kind war, hab ich angenommen, er sei von einem Monster gefressen worden. Später dachte ich, er sei ein Magier und habe sich einfach in Luft aufgelöst.« In ihrem Blick erkenne ich Mitleid und Trauer. »Tut mir leid«, nuschle ich und fühle mich total dumm.
»Ich glaube, es gab Ärger auf der Arbeit und deshalb ist er verschwunden.«
»Ärger auf der Arbeit? Er hat uns deshalb verlassen?« Wütend stehe ich wieder auf und fasse es einfach nicht.
Sie atmet spürbar aus und ich merke ihr an, dass sie sich schon lange auf dieses Gespräch vorbereitet hat.
»Irgendwas ist vorgefallen, einige Wochen bevor er verschwunden war. Er blieb länger als gewöhnlich weg, hatte sich aber immer gemeldet. Das hatten wir ausgemacht. Er sollte mir alle zwei Stunden eine Nachricht schicken, damit ich weiß, dass alles gut ist. Sein Job war nicht … er war gefährlich.«
Mit solchen Erkenntnissen hätte ich nicht gerechnet. Ich wünsche mir, er wäre ein Zauberer oder Magier und alles würde Sinn ergeben. Aber das hier?
»Wie gefährlich?«
Sie überlegt, wie weit sie mit ihrer Enthüllung gehen kann. Dann scheint sie sich selbst zuzunicken und betritt das Büro.
»Er arbeitete für eine Geheimorganisation und ...«
»Eine GEHEIMORGANISATION? Sag mal, aus welchem ›James Bond‹ Film hast du das denn alles her?«
Sie guckt mich nur an und ich weiß, dass sie aufhört, sobald ich sie weiter unterbreche. Ihren Blick kenne ich nur zu gut. Wenn sie von mir genervt oder enttäuscht ist, schaut sie mich einfach nur an. Ganz ruhig, sie legt dabei ihren Kopf etwas schief, ansonsten aber blinzelt sie nicht einmal. Ihre braunen Augen machen mich nervös und ich verspreche ihr, mich zu benehmen. Aber mal ehrlich: Zuerst das mit der Tür, dann soll er für eine Geheimorganisation arbeiten? Mir liegt die Bemerkung ›welchen James Bond sie am Besten gefunden hat‹ auf der Zunge, doch lasse ich es lieber bleiben. Ich finde ja, Roger Moore hat es echt großartig gemacht und war traurig, als er vor einigen Monaten gestorben ist.
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