Paul bestellte sich ein zweites Bier und langsam stellte sich bei ihm auch der Hunger ein. Er orderte für sich eine Spezialität des Hauses fresh wild salmon. Brian tat ihm desgleichen, jedoch wählte er das «bar meal»: spare ribs with baked potatoes.
Alsdann ging Paul nochmals in die Offensive und fragte Brian nun direkt, ob er dem Lord von Blue Danube erzählt habe. – Brian konnte nicht mehr ausweichen und er bejahte die Frage. «Und, wie hat der Lord darauf reagiert? Und was hast du ihm alles erzählt?»
«Reagiert hat er nur mit einem müden Lächeln. Gut, ich habe ihm auch nicht wirklich viel erzählt. Eigentlich nur, dass man dem ganzen Datenwirrwarr von heute einen Riegel schieben sollte.»
Auf jeden Fall holte der Lord in der Folge aus und er gab Brian sein Weltverständnis zum Besten – selbstverständlich liess er das Ganze von einer Flasche «Highland Park Thorfinn Whisky» begleiten; die Flasche kostet im Handel CHF 1790 – Brian durfte mithalten.
Anmerkung: Der Whisky in der dunklen, mit Gold verzierten Flasche ist eine Hommage an eine historische Persönlichkeit aus dem 11. Jahrhundert. Sein Name lautet "Thorfinn Sigurdsson der Mächtige". - Viele der Highland Park Whiskys sind nach lokalen Helden, tapferen Kriegern und berühmt-berüchtigten Wikingern benannt. Der Whisky reift im klimatisch rauen Norden Schottlands in Fässern heran, die zuvor Sherry enthielten, und bietet ein facettenreiches Geschmacksprofil mit Anklängen von Ingwer, Trockenfrüchten, Gewürzen sowie aromatischem Torfrauch.
Und ähnlich wie "Thorfinn Sigurdsson der Mächtige" verstand sich auch der Lord. Er konnte der aktuellen Politik mit «Brexit» und anderem mehr nichts abgewinnen, und der jetzige Premierminister des Vereinigten Königreichs mit seiner «Lachfrisur» war für ihn nur ein Abklatsch der guten alten Zeiten. Diese lagen allerdings doch ein ganzes Stück zurück, wo Schottland von England noch unabhängig und ein eigenständiges Königreich war. Der Lord sehnte diese Zeit vor 1707 zurück, wenngleich er sie selbstverständlich selber nicht erlebt hatte; seine Vorfahren jedoch schon, und es liess sich den Analen der Familiengeschichte hierzu so einiges entnehmen.
Bei einem zweiten Glas Thorfinn und einem tiefen Schluck daraus wurde der Lord immer redseliger und er fing an zu fabulieren, fantasieren und steigerte sich gar hin zum Träumen. Er schwebte auf Wolke «sieben» und er verstand sich als Retter der Nation, wenn nicht gar als Retter der ganzen «kultivierten» Gesellschaft, wozu er sich selbstverständlich zählte.
Seine Verblendung ging so weit, dass er kaum noch unterscheiden konnte zwischen arm und reich, zwischen schwarz und weiss und schon gar nicht zwischen Recht und Unrecht; er verleugnete alles, was nicht seinem Weltbild entsprach.
Sein archaisches Gedankengut ging so weit, dass er nicht mehr zwischen gut und schlecht, zwischen bös und gerecht, zwischen Wahnwitz und Realität unterscheiden konnte; er wollte nur noch seine Meinung als die einzig Richtige verstanden wissen. Jeder Widerspruch wurde von ihm im Keim erstickt.
Bei einem dritten Glas Thorfinn schlief er ein.
Paul war entsetzt ob den Äusserungen von Brian, und sie machten ihm Angst. Ähnliches hatte die Geschichte schon zu oft erlebt, und es endete ausnahmslos im Desaster. – Sollte der Welt heute Gleiches widerfahren, so müsste dem Ganzen Einhalt geboten werden und zwar mit aller Deutlichkeit. – Paul wollte seinen Teil dazu beitragen.
Brian war ein wenig verunsichert ob der Haltung seines Kollegen und er bestellte sich und Paul ein weiteres ‘Pint’. Das Pub hatte sich in der Zwischenzeit gut gefüllt und sie lauschten in der Folge den Klängen der Live Band zur «traditional Irish music».
Philippe kehrte nach Hause zurück und erzählte Deborah von seinem Treffen mit Fred. Mit etwas Zurückhaltung sprach er auch den Inhalt des Gesprächs an, jedoch wusste er, dass Deborah sich grosse Sorgen um die jetzige Situation machte. Wie alle, war sie verunsichert ob dem rasanten Tempo der Ausbreitung der Pandemie und sie sorgte sich auch um Philippe, gehörte er doch nach Ansicht der Fachleute zu jener Risikogruppe, welcher das Virus am meisten anhaben konnte.
Deborah selber hatte einen gemütlichen Abend mit Susann verbracht. Auch für die beiden war es wahrscheinlich für längere Zeit das letzte Mal gewesen, dass sie sich auswärts hatten verpflegen können. Das Essen war in Ordnung, wenn auch nicht überragend, aber das Ambiente stimmte und der Gedankenaustausch war inhaltlich sehr ansprechend.
Beide sassen im Wohnzimmer, und sie gönnten sich noch ein Getränk, bevor sie zu Bett gehen wollten. Die Stimmung war irgendwie ein wenig bedrückt und so blieb es beim Relaxen auf dem Fauteuil. Deborah genoss einen Gute-Nacht-Tee und Philippe gönnte sich einen Schlummertrunk. Man musste ja nicht immer miteinander sprechen. – Alsbald wünschten sie sich gegenseitig gute Nacht.
Am nächsten Morgen sah die Welt schon wieder freundlicher aus. Philippe und Deborah nahmen ihr Frühstück ein, und Deborah wusste nun doch noch einiges vom gestrigen Abend zu erzählen. So habe Susann in der Zwischenzeit einen neuen Job gefunden und er gefalle ihr sehr gut. Sie sei nun Disponentin in einer Logistikfirma und sie bringe ihre Teilzeitbeschäftigung ganz gut mit der Betreuung von Max – dem gemeinsamen Sohn von Susann und Fred – unter einen Hut. Fred sei im Übrigen ganz anders geworden, und sie liebe ihn nach wie vor. Auch könne sie sich wirklich vorstellen, ihn ein zweites Mal zu heiraten; die gemeinsame Wohnung, in der sie nun lebten, erfülle all ihre Wünsche. Philippe freute sich dies zu hören und er wünschte sich, die beiden bald wieder bei sich zuhause zu einem feinen Essen begrüssen zu dürfen.
Das Wetter nahm langsam wieder Temperaturen an, welche die Lust aufs Grillieren beflügelten. Die letzten Tage und Wochen zuvor waren garstig. Die Bise blies unaufhaltsam und drang durch jedes Kleidungsstück, selbst wenn man versuchte, sich im «Zwiebelschalenprinzip» warm zu halten. Auch die in die Jahre gekommenen Fenster im Haus mochten der Kälte kaum noch zu trotzen, sodass die Zimmertemperaturen nicht mehr das versprachen, was man als gemütlich bezeichnen konnte. Philippe nahm sich vor, im Verlauf des Sommers dem Ganzen entgegen wirken zu wollen und sei’s nur, indem er die Heizung überprüfen liess.
Deborah checkte ihre Meldungen auf dem Smart Phone und sie konnte mit Freude feststellen, dass sich Rouven mit seiner Freundin für den nächsten Sonntag zum Mittagessen angemeldet hatte. Es war doch schon wieder einige Zeit her, wo sie zum letzten Mal zusammengekommen waren. – Philippe freute sich über den angekündigten Besuch und er überlegte sich bereits, was der denn kochen wollte. Marvin konnte am Essen leider nicht teilnehmen, da er zur besagten Zeit arbeiten musste. Aber es gab sicher schon bald wieder eine andere Gelegenheit, wo sie alle zusammen gemütlich beisammen sein konnten.
In der Folge unterhielten sich Deborah und Philippe über ihre Freunde in Südfrankreich, Bernard und Isabelle. «Wie geht es ihnen wohl?», so die Frage von Deborah. «Wir haben schon lange nichts mehr von ihnen gehört. Weisst du, Philippe, wie sich das Virus in Frankreich verhält und ob dort auch schon Läden geschlossen worden sind?»
Philippe zückte sein Tablet und schlug die online Seite von Var-matin, eine der Lokalzeitungen im Département Var auf. Bereits auf der Frontseite wurde vermeldet, dass gestern ein 16-jähriger Junge an den Folgen des Virus verstorben sei. Der Übersicht war zudem zu entnehmen, dass Frankreich bereits über 1'600 Tote zu beklagen habe.
«Oh, das sieht ja noch viel schlimmer aus, als bei uns.» So, die Antwort von Philippe. – «Ich muss unbedingt mit Bernard telefonieren und mich bei ihm nach ihrem Befinden erkundigen. Willst du mit dabei sein Schatz, dann wählen wir ‘Skype’ auf unserem Computer?» - «Ja, gerne.»
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