„Ich will tun, was du sagst“, antwortete Märeth. Dann sah sie ihr Gegenüber nur fragend an; sich nach den anderen Geschenken zu erkundigen verbot ihr der Anstand.
„Des Weiteren erhältst du von mir noch eine Geschichte und einen Schlüssel“, sagte Hagen. „Genauer gesagt: meine Geschichte. Sie ist sowohl für dich, damit du weißt, wer dein Gatte war, als auch für Aldrian, der, falls er geboren werden sollte, seinen Vater nie zu Gesicht bekommen wird. Durch die Saga, die du ihm erzählen sollst, wird er wissen, wessen Blut in ihm fließt – und was er zu rächen hat.“
Er legte sich zurück in die Kissen und halb sitzend, halb liegend, machte er es sich so bequem, wie es ihm seine Wunden und Verbände erlaubten.
Und während draußen die Stadt von den Ereignissen der letzten Tage summte wie ein aufgescheuchter Bienenstock, saßen in der Kammer Hagen und Märeth beisammen. Nur der flackernde Schein des Kaminfeuers warf durch das Fenster einen schmalen Pfad des Lichts in die auf der Rückseite von Didriks Haus ruhig sich ausbreitende Dunkelheit.
Was hier in Susat in den letzten zwei Tagen zum tragischen Höhepunkt gekommen war, das hatte schon etwa vierzig Jahre vorher seinen Anfang genommen, als ein kleiner Knabe von seiner Herkunft erfuhr.
Er war anders, ganz anders! Das Knäblein, das da in den Armen seiner Mutter lag, konnte unmöglich sein Bruder sein! Er hatte eine rosige Haut, einen weißblonden Schopf aus seidig weichen Haaren, ein rundes Gesicht und eine kleine Stupsnase. Hagen kannte mit seinen vier Jahren sein Spiegelbild gut. Eben war er wieder von einer Schlägerei heimgekehrt, weil sie ihn wegen seines Äußeren geneckt hatten – wie so oft. Schon vielmals hatte er im Teich oder im Silberspiegel der Mutter sein Gesicht betrachtet.
Er hatte schwarze strähnige Haare, die Haut war bleich und sein Blick, trotz der kindlich-großen Augen stechend. Und zwischen diesen saß eine gebogene, für ein Kind ungewöhnlich scharfkantige Nase, die seinem Antlitz den Ausdruck eines kleinen Raubvogels gab.
Eines Tages hatte ihm Oda erzählt, dass er ein Geschwisterchen bekommen würde. Lange hat es gedauert und seine Geduld auf eine arge Probe gestellt. Das Einzige, was sich verändert hatte, war Mutters Bauch, der anschwoll, dass er langsam befürchtete, sie würde bald platzen. Aber als er nun zerrissen und zerschrammt von einem Kampf mit seinen Spielkameraden nachhause kam, riefen ihn die Mägde in die Kammer der Mutter, er könne jetzt den Bruder ansehen.
Ein Bruder! So hatte er gehofft, dass es ein Bruder werden würde! Er wüsste wirklich nicht, was er mit einem Mädchen anfangen hätte sollen. Und so trat er in Erwartung eines ausgewachsenen Spielkameraden an das Bett seiner Mutter. Diese begrüßte ihn lächelnd:
„Mein Kind, heiße dein Geschwisterchen Gunter willkommen!“
Aber was war das!
Ein kleines Bündel mit zappelndem und schreiendem Inhalt, der aber sicher nicht zum Spielen geeignet war. Und vor allem: Er war anders! Hagen hatte so gehofft, dass sein Bruder wäre wie er selbst, aber er glich eher seinen Spielkameraden als ihm. Er fühlte sich verraten; in seiner Enttäuschung schrie er die Mutter an:
„Wieso ist er so anders?“
Vielleicht war es die Erschöpfung nach der Geburt, möglicherweise schien es Oda auch der richtige Augenblick zu sein ihm die Wahrheit zu sagen. Wie auch immer, es fuhr aus ihr heraus:
„Weil ihr nicht dieselben Väter habt, mein Sohn!“
Hagen hörte zwar die Antwort und gab sich damit zufrieden, aber er verstand sie nicht in ihrer vollen Bedeutung. Irgendwie dämmerte es ihm jedoch, dass nicht sein Bruder, sondern er anders geartet war. Gunter war wie alle anderen Kinder, aber er stand allein da. Die Erwiderung seiner Mutter bezüglich ‚der Väter‘ war nicht vollständig bei ihm angekommen.
Es wunderte Hagen nur, was für ein Aufheben um seinen Bruder gemacht wurde. Wie der Häuptling kurz nach ihm die Kammer betrat, Oda den Säugling aus dem Arm nahm und das Bündel, wie ein rohes Ei haltend, in die Halle trug. Dort waren alle aus Vernica zusammengerufen worden. Der Saal war brechend voll. Aldrian stellte sich vor seinen Hochsitz, hob das Neugeborene in die Höhe und rief:
„Ich habe einen Sohn! Ehrt Gunter! Er wird einmal euer Häuptling sein!“
Die Menge schrie:
„Heil Gunter! Heil Aldrian!“ Und die Edlen schlugen mit den Schwertern auf die Schilde. Der Lärm verschreckte den Säugling in Aldrians Arm und er begann fürchterlich zu schreien. Rasch gab der Häuptling Gunter einer Magd, welche ihn zurück zu seiner Mutter in die Kammer brachte.
Hagen wunderte sich aber, warum sein Vater der Menge zugerufen hat, er habe einen Sohn, wo seine Mutter ihm eröffnet hatte, sie hätten nicht ein und denselben Vater. Und wieso Gunter Häuptling werden sollte, wo er doch nach ihm geboren worden war. Seine Verwirrung konnte nicht größer sein und dies beschäftigte ihn lange. Er hatte dazu jedoch genügend Zeit, denn es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bevor sein Bruder halbwegs als Spielkamerad zu gebrauchen war. Erst nachdem sie noch eine Schwester, welche den Namen Grimhild erhielt, bekommen hatten und die Obsorge der Eltern und Mägde sich auf das neugeborene Mädchen konzentrierte, war Gunter so weit, dass Hagen ihn auch einmal etwas fester anpacken konnte, ohne dafür gleich eine Rüge der Erwachsenen einstecken zu müssen. Aber es blieb eine für ihn unverkennbare und rätselhafte Tatsache, dass Gunter mehr Aufmerksamkeit bekam, als er. In anderen Familien war das nicht so. Immer der Älteste der Knaben war der Bevorzugte.
Als Hagen sechs Lenze zählte und aus der Obhut seiner Mutter, in die eines Lehrmeisters gekommen war, wollte er endlich Antworten auf die Fragen bekommen, die ihn beschäftigten. Er trat hin zu der Magd seiner Mutter und bat, Frau Oda sprechen zu dürfen. Die Zeiten, wo er ungerufen und unangemeldet zur Mutter in die Kammer stürmen durfte, waren vorbei – das hatte der Knabe schon gelernt. Als er vorgelassen wurde, setzte er sich neben sie und kam unmittelbar auf den Grund seines Besuches zu sprechen:
„Mutter, wer ist Gunters Vater?“
Verdutzt sah ihn Oda an und antwortete:
„Hagen, das weißt du doch. Aldrian, unser Häuptling, ist sein Vater.“
„Aber du hast gesagt, er und ich hätten nicht denselben Vater!“ Die Verwirrung des Knaben konnte kaum noch größer werden.
„Das ist richtig.“ Jetzt erkannte Oda, was den Jungen in den letzten Monden so beschäftigt hatte. „Hör mir zu, ich erzähle dir eine Geschichte. Es ist die Saga unserer Familie und sie wird dir auch deine Frage beantworten. Manches wirst du zurzeit noch nicht verstehen, aber höre dennoch zu und versuche dir die Worte zu merken.
Dein Großvater Irian, mein Vater, war der Häuptling unseres Stammes. Wir sind Ubier, aber er war auch in den Diensten der römischen Legion im Rang eines Dux. Das bedeutete, dass er und seine Männer Teil der Legion waren. Das nannte man Foederaten. Er hatte ein Mädchen aus der römischen Sippe des Mutius Scaevola geheiratet, meine Mutter – sie starb früh – und er residierte in Irianiacum, der Villa rustica nicht weit von hier. Du kennst sie – sie ist jetzt verlassen, wie auch die Römer schon vor Jahren aus dieser Gegend abgezogen sind.
Der Häuptling, Aldrian, aber ist ein Franke und kam als junger Krieger mit einer kleinen Gruppe Auswanderer aus Gallien in unser Land und bot deinem Großvater Irian seine Dienste an. Im Gegenzug erhielt er dafür die Erlaubnis, im alten Römerkastell Verniacum siedeln zu dürfen. Schon bald hatte er sich sehr verdient um das Land gemacht. Viele unserer Edlen mochten Aldrian, denn er kam mit fast allen gut aus. Aber es gab auch einige Neider in unserem Volk, die ihm seine Stellung beim Häuptling nicht gönnten.
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