»Mhm, mhm, du bist jetzt erst an deinen Hausaufgaben? Die Ferien sind bald vorbei und unser lieber Loyd ist noch nicht einmal fertig mit seinen Arbeiten. Was soll ich denn davon halten? So geht das aber gar nicht. Ich glaube, ich muss aufhören, dir Vorträge zu halten und dir lieber mal die Leviten lesen!«, rüffelte Anker, dessen Stimme zunehmend lauter geworden war. Keli wusste nicht, was da vor sich ging, oder warum Anker auf einmal so wütend war. Würde die Lage eskalieren? Würden sie sich … würden sie sich etwa schlagen? Dann brachen beide, Loyd und Anker, in schallendes Gelächter aus. Loyd hüpfte auf die Beine und tauschte einen heftigen Handschlag mit Anker. Anschließend klopfte ihm Anker freundschaftlich auf den Rücken. Keli stand vollkommen baff da und verstand die Welt nicht mehr.
»Altes Haus. Ich habe echt gedacht, du würdest ohne mich losziehen, als ich nicht von Hildenberge wegkonnte«, sagte Loyd beschwingt.
»Unsinn! Als mich deine zweite Lichtmail aus Hildenberge erreichte, in der du die Geräusche aus dem Gletscher und das Erdbeben erwähntest, habe ich mich sofort mit einem Rettungstrupp auf die Socken gemacht, um nach deiner Familie und dem Rest des Dorfes zu sehen. Leider war es schon zu spät und die Lichtmails, denen wir dann als Wegweiser folgten, haben uns schließlich bis zum Laternenweiher gelotst, wo Keli versuchte, dich huckepack zu nehmen. Du hast wirklich eine intelligente und tapfere Schwester, und du solltest stolz auf sie sein.«
Loyd seufzte plötzlich tief und senkte den Blick entmutigt zu Boden. »Verdammtes Unglück. Ich kann noch immer nicht fassen, was passiert ist«, flüsterte er voller Kummer und ballte dabei die Hände zu Fäusten.
»Keli, komm her!«, winkte sie Anker zu sich. Keli trat zu den zweien hinzu, woraufhin Anker den Blick der trauernden Geschwister suchte. »Hört mal zu, ihr beiden. Es tut mir unendlich leid, was euch, euren Eltern und der Gemeinde Hildenberge widerfahren ist, aber man kann es nicht mehr ändern. Ich weiß, es ist hart, aber lasst uns gemeinsam nach vorne blicken, denn was man beeinflussen kann, ist einzig die Zukunft, sonst nichts . Wir alle haben eine schwierige Zeit vor uns und müssen unsere Kräfte bündeln und vereinen, um dem entgegenzutreten, was uns unseren gesamten Fokus abverlangen wird. Loyd, ich habe es gestern Keli schon mitgeteilt: Eure Eltern sind vielleicht noch nicht verloren. Wenn sie tatsächlich von einem Sonnenloch verschluckt wurden, besteht die Chance, dass sie noch leben.«
»Ich wusste es!«, jubelte Loyd urplötzlich und machte einen Luftsprung.
»Schhhhh!«, zischte Anker, als ein Krankenpfleger, der gerade mit dem Versorgen der bandagierten Kinder aus Hildenberge beschäftigt war, empörte Blicke zu ihnen hinüberwarf.
»Ok. Von jetzt an wird nur noch geflüstert«, bedeutete Anker leise. »Also, die Sache ist die: Der Vorgang der Sonnenlochinfiltration ist tatsächlich in einem Schriftstück der frühen Neuzeit beschrieben und ich weiß, dass ich schon mal über diesen Mechanismus gelesen habe. Nur, das Dokument wird, so vermute ich, irgendwo in der Sonderabteilung der Universitätsbibliothek des Lichterloh-Campus verwahrt. Einerseits müssen wir es zuerst suchen und andererseits werden wir wegen der Überschwemmung für einige Wochen nicht in die Nähe von Hildenberge gelangen können. Lasst uns diese Angelegenheit, sobald wir aus Kael zurück sind, in Angriff nehmen. Bis dahin sollten die Bergungsleute den Weg wieder freibekommen haben. Loyd, nun zu dir«, sagte Anker kurz angebunden und fixierte ihn scharf. »Ich habe dich gestern Abend über meinen Entscheid, Keli ins Zentrum mitzunehmen, per Lichtmail unterrichtet und ich denke, die Botschaft ist auch angekommen. Hast du dagegen etwas einzuwenden?«
Loyd sah nachdenklich drein. Gerade eben war er noch strikt dagegen gewesen, dass Keli mitkam und hatte Anker eigentlich von seinem risikoreichen Vorhaben abbringen wollen. Keli war noch viel zu jung und unbesonnen, um dem Schrecken im Geschwärzten Zentrum standhalten zu können. Doch mit der neu erlangten Aussicht darauf, dass ihre Eltern vielleicht noch lebten, änderte sich natürlich eine Menge. Diese positive Aussicht könnte als Motivationsspender in den finsteren Gassen Kaels dienen, sodass Keli fähig wäre, sich auf dem Weg dorthin emotional über Wasser zu halten. Und es machte zugegebenermaßen auch Sinn, falls Ankers Theorie über die Vierfingrigen stimmte, dass Keli am besten bei ihm und Anker aufgehoben war.
Viel einwenden konnte er ohnehin nicht; er sprach immerhin mit einem der respektabelsten Professoren im ganzen Laternenwald.
»Tja, wenn es nicht anders geht …«, wisperte Loyd geringschätzig. Er schaute Keli nicht an, und diese wiederrum war aufgrund von Loyds Haltung ein wenig irritiert.
Wieso sprach Loyd so, als wäre sie ein fünftes Rad am Wagen? Schon wollte Keli den Mund öffnen, um Loyd zu vermitteln, es sei genau genommen seine Schuld, dass ihre Eltern heute nicht unter ihnen weilten, doch Anker war schneller: »Dann wäre das also geklärt. Du stimmst zu. Das Expeditionsteam trägt die Verantwortung für Keli.«
»Jaja, es wird wohl das Beste sein.«
»Gut, dann wäre das Thema hiermit abgeschlossen. Und nun zum Wesentlichen. Wie ihr wisst, habe ich Keli – äh, ich meine natürlich dich, Loyd – vor einigen Tagen für eine dringende Expedition nach Lichterloh bestellt.« Anker fasste sich ans Genick und fing hektisch an, dieses zu reiben, als litte er an einem steifen Nacken. »Professor Simimund, der in der Forschungsstation 1 den Zustand der Überschwärzung und des Unlichts überwacht, berichtete mir in einer Lichtmail, das Unlicht würde sich seit wenigen Tagen in exponentieller Geschwindigkeit vermehren und könnte ohne Gegenmaßnahmen in wenigen Wochen bis zu den inneren Mauern des Schwarzen Vorhangs vordringen. Selbst der hunderte Meter dicke Wall kann das Unlicht nur temporär aufhalten. Wenn es durch die Grotten des Vorhangs nach draußen gelangt, haben wir ein mächtiges Problem. Deshalb müssen wir so schnell wie möglich herausfinden, was der Grund für die plötzliche Unlichtzunahme ist und unsere Erkenntnisse anschließend allen Regierungssitzen des Laternenwalds präsentieren. Nur so können wir alle Präfekturen dazu animieren, gemeinsam gegen das Problem vorzugehen. Ich selbst glaube, dass das seltsame Wetter in Hildenberge und der Einbruch des Bodens unter dem Dorf mit dem sich ausbreitenden Unlicht in Verbindung steht. Die Annahme stütze ich auf ein Ereignis, das euch sicherlich wohlbekannt ist: der erste Schneesturz, der dem Erfrorenen Dorf damals seinen Spitznamen einbrachte. Das geschah vor 160 Jahren, im Jahr 875 ab Neuzeit; und warum ich mich ausgerechnet an diese ungewöhnliche Jahreszahl erinnere, hat damit zu tun, dass eben auch in diesem Jahr das Unlicht außer Kontrolle geraten ist.«
»Ah, ›Die Schwarze Krise‹, darüber hast du mal im Unterricht gesprochen«, ergänzte Loyd, nachdenklich sein Kinn in die Hand stützend.
»Jo. Wichtig ist hierbei, dass sich die Krise und der Schneesturz des Erfrorenen Dorfs zeitgleich zutrugen. Damals steckte das Fürstentum Nihilis dahinter, dessen Leute im Zentrum illegale Experimente durchführten, um das Unlicht zu vervielfältigen – nicht unbedingt das, was wir hier in Lichterloh als sehr klug bezeichnen würden, stimmt`s? Jedenfalls hat man die Übeltäter erwischt und dem Fürstentum als Sanktion den Zutritt nach Kael bis auf Weiteres verboten. Damals spielte das Wetter im ganzen Laternenwald verrückt. Was wir aus dem damaligen Vorfall herleiten können, ist, dass es zwischen der Ausbreitung des Unlichts und dem jüngsten Schneesturz in Hildenberge einen Zusammenhang geben könnte. Gut. Das wäre einer der offenen Punkte, für den wir auf der Expedition ins Zentrum eine Antwort suchen werden.«
Loyd zog unverzüglich ein kleines Notizbüchlein hervor und begann, zu kritzeln. Mit der Streberbrille sieht er urkomisch aus , dachte Keli, die sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte. So eifrig hatte sie ihren Bruder noch nie gesehen.
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