»Keli, ich will dich keiner falschen Wahrheiten belehren, aber ich rate dir, Ethik und Tugend immer als relativ zu betrachten. Was für die einen richtig ist, mag für die anderen falsch sein. Ich sage meinen Studenten bei Kursbeginn immer: Alles, was ihr zu meinem Unterricht mitbringen müsst, ist der Wille, mich zu kritisieren und meinen Vortrag zu hinterfragen. Kritisches Denken ist die einzige wahre Fähigkeit, die du an der Uni brauchst. Und wenn ich mitbekomme, dass ein Professor nicht auf die Fragen und Kritik der Studenten eingehen kann, dann wird er von mir höchstpersönlich auf die Straße gestellt. Denn nicht die Vorlesung ist lehrreich, sondern die Diskussion zwischen denjenigen, die die Botschaft verschieden interpretiert haben. Einfach aus einem Buch vorlesen könntest nämlich sogar du. Ho-ho-ho.« Anker gluckste laut auf. »Wie dem auch sei«, fügte er schließlich an, als er Kelis große Augen bemerkte und gab ihr einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter.
Keli, von der Wucht des Schlages überrascht, fiel beinahe von der Couch. Sie fing sich aber rasch wieder und erwiderte Ankers intensive Geste mit einem matten Lächeln.
»Tja, und der Schmelzfront und unseren langjährigen, misslichen Beziehungen zu Atlas haben wir es zu verdanken, dass Lichterloh strenge Grenz- und Personenkontrollen verhängt hat. Um die Hauptstadt Lichterloh herum wurde eine hohe Grenzsperre errichtet, damit keine Schmelzfrontterroristen und andere unerwünschte Minderheiten ins Stadtzentrum reinkommen. Bei den anderen Präfekturen sieht die Lage ähnlich aus. Du wirst allerdings feststellen, dass der Diplomatenausweis uns das Leben beim Grenzübergang um einiges erleichtern wird. Ich zeige dir später, was ich damit meine«, sagte Anker nun breit grinsend, als würde er etwas aushecken. »Komm, du musst sicher einen gewaltigen Hunger haben. Jetzt essen wir zuerst mal einen Happen, und dann gehen wir ins Krankenhaus und sehen, ob unser guter Loyd schon wieder fit ist.«
Anker hielt Keli die Tür auf und zusammen betraten sie das Esszimmer.
Sie frühstückten an einem langen, gläsernen Tisch, der wie die Großform des Tischchens aussah, das im Gästezimmer stand. Obwohl Anker eine Menge interessanter Dinge aufgetischt hatte, begnügte sich Keli mit einer Schale weißen Reises, einem Mundvoll Fisch und fermentierten Bohnen. Das Trauma der letzten Tage verkrampfte ihr noch immer den Magen. Anker hatte Pitt, Pott, Patty und Putt in die Küche gesperrt, da sie versucht hatten, auf Kelis Schoss zu klettern, während sie aßen. Grelles Gejaule hinter der Küchentür machte verständlich, dass die Gurken mit dem Verlauf der Dinge nicht glücklich waren. Nachdem sie fertig gegessen hatten, ließ Anker sie wieder raus und die beiden machten sich, während die Gurken frohsinnig über jedes bekriechbare Etwas purzelten, bereit für die Abreise. Es war selbsterklärend, dass Keli nichts außer den Sachen, die sie gerade trug, einer Zahnbürste, die ihr Anker am Vorabend gegeben hatte und dem Diplomatenpass besaß. Deshalb stand Keli nach dem Frühstück vor dem Badezimmer nicht recht wissend, was sie ohne frische Kleider tun sollte. Vielleicht sollte sie Anker mitteilen, dass sie für die Expedition noch ein oder zwei Paar Socken brauchen würde, doch danach zu fragen, war ihr peinlich.
Anker war in den Keller verschwunden, doch seine sich nähernden, polternden Schritte kündigten bereits seine Rückkehr an.
Anker kam mit drei üppig bepackten, dunkelfarbenen Rucksäcken zurück. Einen davon streckte er Keli hin.
»Hast wohl geglaubt, du müsstest die nächsten Wochen mit derselben Unterhose verbringen?«, gluckste Anker, der sich über Kelis Unbeholfenheit amüsierte.
»Wow, vielen Dank. Wann hast du das denn alles vorbereitet?«
»Nicht der Rede wert. Das bisschen Zeit, das ich für den zusätzlichen Pass und Proviant einbüßen musste, ist es allemal wert, gut vorbereitet zu sein. Das Schlimmste auf einer Expedition ist es nämlich, nicht zu wenig Schlaf gehabt zu haben, sondern schlecht auf das vorbereitet zu sein, was möglicherweise schiefgehen könnte – und davon gibt es eine ganze Menge. In deinem Rucksack findest du ein kleines Zelt für zwei Personen, Kleider für eine Woche in einer universalen Größe – sodass jeder, der sie braucht, sie tragen kann –, Nahrungsmittel für eine Woche, eine gefüllte Wasserflasche, einen Regenmantel, ein paar Gummistiefel, allerlei Toiletten-Artikel, ein Allzweckmesser, ein Stahlstäbchen mit Flint – um Feuer zu machen –, Zunder, ein paar Meter Seil – ist immer gut –, und zuletzt noch ein Steinvoll gebündeltes Altes Sonnenlicht, um der Überschwärzung in Kael standhalten zu können, bis wir bei der Forschungsstation ankommen. Damit du im Notfall informiert bist: In meinem und Loyds Gepäck befindet sich das Gleiche nochmal.«
Keli wurde nun auf einmal ein wenig zappelig. Erst jetzt begriff sie so richtig, wofür sie sich da entschieden hatte. Sie würde zum berüchtigten Schwarzen Zentrum reisen, wo nur die allerwenigsten Wesen jemals einen Fuß hineinsetzen. Was sie dort wohl erwartete? Ein aufgeregtes Kribbeln irgendwo tief in ihrer Brust machte sich bemerkbar.
Ein wenig später trat Keli erfrischt und in ihrem neuen Outfit aus dem Badezimmer, gerade als die Türglocke klingelte. Anker warf sich die restlichen zwei Rucksäcke über die Schulter und schlurfte zur Eingangstür, die er prompt mit seinem Ranzen aufstieß. Eine ältere, aber gepflegt aussehende Frau trat herein. Sie hatte graues, gescheiteltes Haar und trug teuer aussehende Edelsteine in Form von Ringen an der Hand und als Kette um den Hals.
»Ah, Kanako, die Dirigentin! Schön, dich zu sehen«, sagte Anker, der seine Arme weit ausbreitete, die Frau umschlang und ihr einen saftigen Kuss auf die Wange drückte.
»Ganz meinerseits«, entgegnete Kanako vergnügt. Wo sind denn die süßen Viechlein? Puu–tzi, putzi, putz«, dudelte sie durch das Esszimmer.
Keli, die sich im selben Augenblick umschaute, bemerkte, dass die Landgurken verschwunden waren. Bevor es geklingelt hatte, waren sie noch quietschvergnügt auf dem Esszimmerboden herumgetollt.
»Keli, das ist meine Kollegin Kanako Hopkins, von Atlas, von Adelgrund. Sie ist eine Gastprofessorin aus der Hochschule von Adelgrund und ebenfalls leidenschaftliches Mitglied des Gurkenclubs. Sie wird während meiner Abwesenheit auf meine Babys aufpassen«, erklärte Anker, der sich nun Kanako zudrehte: »Kanako, das ist Keli von Lichterloh, von Herbstfeld, von Hildenberge. Sie ist die Schwester eines Explorationsstudenten von mir und interessiert sich ebenfalls für ein Studium an der HHF.«
Kanako ging auf Keli zu und streckte ihr die linke Hand hin, wie es in Lichterloh üblich war. Keli hob die ihre und streckte sie aus. Als sich Hand und Hand trafen, stahl sich Kanakos Blick für den Bruchteil einer Sekunde über Kelis Hand, an welcher der Zeigefinger fehlte, dann sah sie rasch wieder auf und meinte freundlich: »Es ist mir eine Freude, Sie kennen zu lernen. Das Schicksal Hildenberges betrübt mich zutiefst. Wenn es etwas gibt, womit ich Ihnen behilflich sein kann, dann lassen Sie es mich bitte wissen.«
Keli sah, wie Anker sich für einen Moment auf die Unterlippe biss.
»Ja, dann. Kanako, wir sind schon einige Tage im Rückstand und müssen aufbrechen. Hier ist der Schlüssel für das Haus. Das Futter für die Gürklein findest du auf dem Balkon, wie immer«, sagte Anker mit bemerkenswerten Schweißperlen auf der Stirn.
»Keine Sorge. Ich werde auf die Lieben aufpassen, genauso wie auf den ›überschwänglichen Verein‹, den ich zu leiten habe. Bald geht es los.« Kanako lächelte Anker zu und zwinkerte dabei. »Ich wünsche dir viel Erfolg in Kael und, dass du auch in einem Stück, und vielleicht ein paar Stückchen mehr, wieder zurückkommst. Sonst werden die Gürkchen nämlich zu mir umziehen müssen.«
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