»Pitt, Pott, Patty und Putt. Was habt ihr im Gästezimmer verloren?«, sagte Anker ermahnend. Diese Worte waren an die vier gurkenähnlichen Geschöpfe gerichtet, die gerade Hals über Kopf und mit schrillem Gequietsche über die Türschwelle krochen.
» Das ist ›pfui‹ «, rief er ihnen mit erhobenem Zeigefinger hinterher.
»Keli, bitte entschuldige. Das sind meine Haustiere. Ich hoffe, sie haben dich nicht belästigt«, sagte Anker munter.
»Nein, ist schon in Ordnung. Ich habe mich nur erschreckt. Was sind denn das für Wesen?«, erkundigte sich Keli halb verärgert, halb belustigt.
»Landgurken werden sie im Volksmund genannt und es gibt sie nahezu überall. Es sind bereits 42 Arten entdeckt worden, und durch die Erforschung des äußeren Sternenwalds kommen stets neue dazu.«
»Oh – verstehe«, grummelte Keli, die ihre glitschigen Ärmel beäugte.
»In der Regel sind sie ganz lieb und den Menschenwesen gegenüber wohlgesinnt«, fügte Anker hinzu, während er sich vor dem gläsernen Tischchen in einen Sessel fallen ließ. »Wenn Loyd schon wieder auf den Beinen ist, können wir uns vielleicht heute Nachmittag schon mit Naomi in Lichterloh treffen. Sie ist eine gute Kollegin von mir und absolviert derzeit ihr Zweitstudium im Fach Biodiversität – öh, das heißt so viel wie das Erforschen von verschiedenen Wesen- und Pflanzenarten«, fügte Anker rasch hinzu, als er Keli die Stirn runzeln sah. »Naomi ist auch ganz angetan von den Gürklein. Ich bin übrigens der Leiter des Gurkenclubs, einer gemeinnützigen Organisation, die das Verständnis für die tollen Wesen fördert. Die Gürkchen sind zutiefst missverstandene Geschöpfe und verdienen unsere Aufmerksamkeit. Sind sie nicht putzig?«
Keli blickte argwöhnisch zur Tür, wo Pitt, Pott, Patty und Putt hinter dem Türrahmen lauerten und mit ihren kleinen, schwarzen Knopfaugen verstohlen ins Zimmer linsten. Keli wusste noch nicht genau, was sie von den Kreaturen halten sollte. Irgendwie fand sie sie zwar witzig, aber ein bisschen widerlich sahen sie ja schon aus. Von den Landgurken abgelenkt, hatte Keli nicht bemerkt, wie Anker seine Hand in die Innentasche seiner Jacke gesteckt und auf der Oberfläche des Tischchens einen handflächengroßen Umschlag abgelegt hatte.
»Was fressen diese Gurken denn? Sie scheinen Hunger zu haben«, wollte Keli wissen, die das Verhalten der Gurken an Haustiere erinnerte, die am Morgen ihre Herrchen wachleckten.
»Öh – nun. Die Landgurken gehören zu den ›Koprophagen‹«, sagte Anker flüchtig.
Zum Glück wusste Keli nicht, was das bedeutete und ging nicht weiter auf das Thema ein. Ihr Blick war auf das Kuvert gefallen, das Anker mit einem dicken Zeigefinger auf der Glasplatte des Tischchens fixierte. Dann schob er dieses zu Keli hinüber.
»Das ist dein Diplomatenpass. Gratuliere – du bist jetzt offiziell Mitglied einer staatlich fundierten Expedition und akkreditierte Vertreterin der Nation.«
Keli schaute überrascht drein. Vertreterin der Nation – sie? Sie wusste nicht einmal recht, was das bedeutete. Anker sah mit Genugtuung, wie sich Kelis Miene ins Unfassbare verzog und fuhr dann mit ernstem Tonfall fort: »Der Ausweis ist ein überaus wichtiges Dokument und darf auf keinen Fall in die falschen Hände gelangen. Schütze ihn wie deinen Augapfel. Er gewährt dir diplomatische Immunität und Zugang zu allen Präfekturen des Laternenwalds und den meisten Zweigstädten der Provinzen. Ausgenommen sind einige Orte, denen wir nicht zu nahe kommen wollen; wie zum Beispiel das Fürstentum Nihilis, wo der Ausweis zwar vor 35 Jahren anerkannt wurde, trotzdem aber immer mal wieder Botschafter aus anderen Staaten festgenommen werden. Dieser Pass darf in keiner Weise weder missbraucht, noch vervielfältigt werden oder abhandenkommen. Nur ganz wenige hochrangige Individuen in Lichterloh sind im Besitz eines solchen Dokuments: die Direktoren der Lichtwirtschaft, einige bedeutende Politiker und dann noch eine Handvoll ausgesuchter Unlichtforscher und Fachwissenschaftler. Deinen Pass konnte ich allein deshalb beantragen, weil ich der Prorektor der HHF bin und die Hochschule und deren Studien im Regierungsrat vertrete.«
Keli hob den Umschlag ehrfurchtsvoll auf und zog ein kleines, nachtblaues Büchlein hervor, auf dem in goldenen Lettern »Diplomatenpass« geschrieben stand. Der Ausweis schien aus hochwertigem Material zu bestehen. Keli öffnete die erste Seite und sah sich selbst aus einem kleinen Foto zulächeln. Alle ihre persönlichen Daten waren korrekt aufgelistet; selbst die vier Fingerabdrücke ihrer linken Hand waren darauf zu sehen.
»Woher kommen denn all diese Angaben und das Foto?«
Anker grinste breit. »Es ist dir vielleicht nicht bekannt, aber in Lichterloh werden die persönlichen Informationen aller Staatsangehöriger regelmäßig eingefordert und ausgewertet. Auch die Bürger, die in Zweigdörfern der Zweigstädte von Lichterloh wohnen, sind dieser Meldepflicht unterstellt. Alle weiteren Zweiggemeinden oder Siedlungen sind von dieser Obliegenheit befreit und gehören nicht mehr offiziell zur Präfektur. Auch du und dein Bruder – da die Gemeinde Hildenberge ein Zweigdorf der Zweigstadt Herbstfeld ist – müsstet in den letzten Jahren einmal nach Lichterloh vorgeladen worden sein – oder etwa nicht?«
Nun fiel es Keli wieder ein: Das war es also, was sie damals in Lichterloh getan hatten und warum sie keine bedeutsamen Erinnerungen an den Besuch bei ihrem Onkel hatte.
»Stimmt, wir haben vor ein paar Jahren mal meinen Onkel in Lichterloh besucht. Aber mir war damals nicht klar, dass das Ziel der Reise die Abgabe von persönlichen Daten war. Ich weiß nur noch, wie wir mit Onkel Nonpe ein amtliches Gebäude besuchten, wo wir zuerst lange anstehen mussten. Ich kann mich aber noch erinnern, dass die Frau, die Loyds und meine Fingerabdrücke nahm, ganz aus dem Häuschen war, als sie bemerkte, dass uns beiden die Zeigefinger an der linken Hand fehlen. Und jetzt weiß ich auch warum«.
»Siehst du«, sagte Anker selbstzufrieden und stand mit einem Ruck aus dem ächzenden Sessel auf. »Das Ganze hat vor etwa vierzig Jahren angefangen. Bis dahin gab es dieses Überwachungsprogramm noch nicht. Ist dir ›die Schmelzfront‹ ein Begriff?«, fragte Anker, während er einen Arm auf der Lehne des Sessels abstützte.
Keli hatte diesen Namen schon mal irgendwo gehört.
»Ich glaube, Loyd hat diese Leute einmal erwähnt. Sind das nicht Terroristen, die andere Wesen umbringen?«, spekulierte Keli, der es peinlich war, so wenig zu wissen, etwas steif.
»Mhm – ja, etwas in der Art. Die Schmelzfront ist eine extremistische Organisation mit Sitz in Atlas, deren Ziel es ist, mit Gewalt die physischen, wie auch geistigen Grenzen der Gesellschaft zu untergraben, um Kael als einen homogenen Staat, wieder aufblühen zu lassen. Der Name kommt von ›Front‹ – also Armee, und ›schmelzen‹. In diesem Fall: eine Milizarmee, die alle Gemeinden im Laternenwald wieder zu einem Volk verschmelzen will. Sie sind sozusagen diejenige Fraktion, die es satt hat, auf verbaler Basis eine Lösung auszufeilen. Sie greifen zu harten Mitteln, um ihren Zielen näher zu kommen«, erklärte Anker ganz diplomatisch.
»Ja, daran kann ich mich noch erinnern. Gerade als Loyd das erste Mal in Kael war, gab es damals einen Anschlag in Lichterloh. Ich glaube, diese Typen spinnen ziemlich.«
»Nun, wo Meinungen an Grenzen stoßen, folgt oft nur rohe Gewalt. Das zeigt uns auch unsere lange Menschheitsgeschichte mehr als nur einmal. Wenn die Gesetze, die falsches Verhalten einschränken sollen, zugleich auch den freien Willen der Bevölkerung unterbindet, dann greifen Minderheiten, die sich unterdrückt fühlen, bekanntlich schnell mal zu extremeren Maßnahmen, die Aufmerksamkeit erregen sollen – das ist nicht unverständlich.«
Keli wusste nicht, was sie darauf zur Antwort geben sollte und eine Diskussion mit einem der größten Professoren der Zeit zu starten, schien ihr so zwecklos wie töricht. Sie senkte den Blick wieder auf den edel glänzenden Diplomatenpass in ihren Händen.
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