Es wurde still im Raum. Unmerklich war das Licht noch ein wenig dunkler geworden. Ein leuchtender Rahmen umgab die linke Leinwand, wanderte in die Mitte, weiter nach rechts und zurück nach links. Immer schneller, immer schneller, Stefan wurde schwindelig, er hätte den letzten Sekt nicht mehr trinken sollen, und zuletzt blieb das Licht in der Mitte stehen. Es wurde dunkel und die beiden Projektoren an den Seiten erloschen. Dann flammten sie wieder auf und nun zeigten alle drei das Logo von Schulze & Niess.
Die Anwesenden applaudierten. Alle drängten sich vor, um Carl Schulze zum Sieg zu beglückwünschen. Stefan war wie betäubt. Es hatte wieder einmal nicht geklappt. Wo kamen all diese Leute auf einmal her? Vorhin waren nur ungefähr zehn Personen im Raum gewesen, die Mitarbeiter der beteiligten Werbeagenturen und einige Angestellte von Rheopharm. Doch nun schien der Raum schier zu bersten von dem Andrang.
Das Licht ging an. Sein Blick suchte automatisch nach Debbie. Da war sie, an der Seite von Schulze, und nahm die Glückwünsche entgegen. Sabine Schallert und ihre Leute gratulierten offenbar neidlos, aber klar, die konnten sich das auch leisten. Er wusste, dass das nun auch von ihm erwartet wurde. Widerstrebend stieß er sich von seinem Tisch ab. Mit steifen Schritten durchquerte er den Raum und gesellte sich zu den anderen. Mechanisch drückte er Hände und murmelte irgendetwas, er hätte nicht sagen können, was und zu wem.
Frau Leidenberg zog ihn zur Seite.
»Herr Schrödinger, ich muss Ihnen sagen, dass der Ausgang ganz knapp war. Mir persönlich hat Ihr Entwurf sogar noch besser gefallen. Aber es gab am Ende eine Abstimmung im Team, und die ging ganz knapp zugunsten von Schulze & Niess aus. Sie können auf Ihre Arbeit wirklich stolz sein!«
Er bedankte sich höflich und verabschiedete sich, so schnell er konnte. Er war schon im Gehen begriffen, da fiel sein Blick auf Debbie, die ihn mitleidig ansah. Mitleid? Ausgerechnet von Debbie? Oh nein, das hatte er nicht nötig.
Er setzte ein bemüht freundliches Lächeln auf und stellte sich zu Tom Herwig. Ihn kannte er noch aus der Zeit in Sabine Schallerts Agentur und er hatte ihn schon viel zu lange nicht mehr gesehen.
Nun wurden Häppchen herumgereicht. Der junge Mann von vorhin hatte das Tablett mit den Sektgläsern gegen eine große Platte getauscht und Unterstützung von zwei jungen Mädchen in dunklen Jeans und weißen Blusen bekommen. Sie gingen von Gruppe zu Gruppe und boten kleine Fleischspieße, Minifrikadellen, ausgestochene Lasagne auf winzigen Tellern und Schälchen mit Gemüsesticks an. Jeder Happen war kaum mehr als ein Bissen.
Der Durchgang ließ Stefan hungriger zurück als zuvor, aber mehr gab es nicht. Auf den nächsten Tabletts standen schon die Nachspeisen. Dickwandige Gläschen waren ungefähr zur Hälfte mit verschiedenen Cremes und Desserts gefüllt. Schokomousse, Vanillepudding, Rote Grütze und, ja, tatsächlich, sogar Tiramisu gab es zur Auswahl. In jedem Glas steckte ein kleiner Löffel, passend zu den winzigen Gefäßen, der den Glasdeckel offenhielt. Stefan stellte sich strategisch günstig neben einen der Stehtische und schaffte es diesmal, von jeder Sorte eine Portion zu ergattern. Danach war er zwar noch immer nicht satt, aber er hatte seine Fassung wiedergefunden. Er brachte es sogar fertig, freundlich zu lächeln, als Debbie auf ihn zukam.
Deborah hatte Stefan die ganze Zeit über aus dem Augenwinkel beobachtet. Weder war ihr sein Gang auf die Toilette entgangen, noch seine Enttäuschung, als er bei der Ausschreibung nur den zweiten Platz erreichte. Nun kratzte er gerade den letzten Rest Vanillepudding aus seinem Gläschen. Deborah fasste sich ein Herz und ging zu ihm hinüber. Sie fühlte sich überhaupt nicht wohl dabei, so zu tun, als ob sie sich nicht kannten, aber bis zu diesem Augenblick hatte sich noch keine Gelegenheit für ein Gespräch ergeben.
Offenbar spürte er ihre Anwesenheit, denn er hob den Kopf und lächelte ihr entgegen. Überrascht erwiderte Deborah das Lächeln. Dann stand sie vor ihm, unsicher, ob sie ihm förmlich die Hand geben oder ihn umarmen und auf die Wangen küssen sollte, wie es hier üblich zu sein schien. Am Ende tat sie beides nicht, sondern verschränkte verlegen die Hände ineinander.
»Hallo Stefan.«
»Hallo Debbie«, antwortete er mit einem schiefen Grinsen. »Ich sollte dir wohl gratulieren.«
Deborah schüttelte den Kopf. »Nein, das musst du wirklich nicht. Es war die Arbeit der Agentur, nicht meine.«
»Aber die Verpackung am Ende, die war doch von dir, oder nicht?«
»Das war nur ein Entwurf«, schwächte Deborah ab. »Ich wusste nicht einmal, dass der mit eingereicht wurde.«
»Gerade mal zwei Monate im Praktikum und schon bei einer Ausschreibung dabei, nach der sich halb Düsseldorf die Finger leckt.« Deborah schluckte. Stefans verbitterter Tonfall ließ das Kompliment fast zur Beleidigung werden. »Und das da drüben ist also dein Chef?«
Ihr Gesicht erhellte sich wieder. »Ja, das ist Carl.« Stefan zog die Augenbrauen hoch. »Carl Schulze, einer der beiden Geschäftsführer«, beeilte sich Deborah zu sagen. Das fehlte noch, dass Stefan aus der harmlosen Anrede die falschen Schlüsse zog.
Stefans Augen verdunkelten sich wieder. »Debbie, ich hoffe, du weißt, was für einen Ruf Schulze in der Branche hat?«
Deborah sah ihn fragend an. »Nein, was meinst du?«
»Er ist bekannt dafür, dass er jede Frau in sein Bett kriegen will, die nur in seine Nähe kommt.« Er sah finster zu Carl hinüber, der ungeniert mit Frau Leidenberg scherzte.
Deborah schüttelte vehement den Kopf. »Nein, das kann ich nicht glauben. Zu mir war er immer sehr freundlich.«
»Eben, das meine ich ja. Er ist immer sehr freundlich zu Frauen.« Stefan lachte bitter auf. »Und man sagt, er bekommt am Ende immer das, was er will.«
Deborah schoss die Röte ins Gesicht. »Er ist nett zu mir, weil ich gute Arbeit leiste, und aus keinem anderen Grund«, fauchte sie.
Stefan hob die Schultern. »Das würde mich sehr wundern. Du wärst die Erste, bei der er es nicht versucht.«
»Stefan, du bist doch nicht etwa eifersüchtig? Oder bist du neidisch, weil nicht du gewonnen hast?«
»Neidisch? Auf den da?« Stefan hatte jetzt die Stimme erhoben. Einige Köpfe wandten sich zu ihm um. »Das habe ich wirklich nicht nötig!«
Carl Schulze war inzwischen herangekommen. Er stellte sein leeres Dessertglas auf den Stehtisch und legte Deborah demonstrativ die Hand auf die Schulter. »Was ist los?«, fragte er ruhig.
»Nichts ist los«, giftete ihn Stefan an. »Ich will nur nicht, dass Debbie ein weiterer Punkt in Ihrer Statistik wird, das ist alles.«
»Darf ich fragen, was Sie das angeht?« Carl war die Ruhe in Person und kanzelte Stefan ab wie einen Schuljungen. »Deborah komm, wir gehen besser. Frau Leidenberg möchte noch mit uns sprechen.«
Deborah warf Stefan einen wütenden Blick zu, als Carl sie am Arm nahm.
»Hör auf, dich in mein Leben einzumischen«, zischte sie ihm zu. »Dazu hast du kein Recht mehr.«
»Kein Recht mehr?«, wiederholte Carl fragend, sobald sie außer Hörweite von Stefan waren.
Deborah presste die Lippen zusammen. »Ich will darüber nicht reden.«
Carl nickte und winkte einem der Mädchen mit einem Tablett. Sie bekamen die zwei letzten Gläschen mit Schokoladenmousse. Während sie das Dessert löffelten, sah Deborah, wie Stefan den Raum verließ, ohne sich noch einmal umzusehen. Sie konnte nicht sagen, woher das mulmige Gefühl kam, das sie plötzlich verspürte.
Er nähert sich unauffällig dem Tisch und lässt das Glas in seiner Tasche verschwinden. Ein rascher Blick in die Runde, niemand hat etwas mitbekommen. Eine Hand hält er schützend davor, damit die kleine Beule nicht auffällt. Mit schnellen Schritten entfernt er sich.
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