Sie schüttelte den Kopf. Über die Absurdität der Situation musste sie selbst lachen. Der Wagen hielt an einer roten Ampel und sie sah auf, direkt in Carls graue Augen, der sie durch den Rückspiegel beobachtete. Sein Blick hatte eine solche Intensität, dass sich ihr Magen verknotete.
»Was ist los, Deborah?«, fragte er.
»Nichts«, antwortete sie. »Ich glaube, ich bin ein bisschen nervös.«
»Das brauchst du nicht.« Klaus wandte sich zu ihr um. »Du musst gar nichts tun und gar nichts sagen. Du musst nur danebenstehen und wichtig aussehen.«
»Aber ich bin doch gar nicht wichtig«, gab sie zurück.
»Nein? Dann schau eben hübsch aus, das wirst du wohl schaffen«, frotzelte Klaus. Über die Lehne des Beifahrersitzes hinweg zwinkerte er ihr zu.
Sie musste lachen. Als der Wagen anfuhr, ließ sie sich in die Polsterung zurückfallen.
Deborah war beeindruckt von der glänzenden Marmorfassade des Firmensitzes von Rheopharm. Sie folgte den beiden Männern in ein großzügiges Foyer, wo sie ein Portier in schwarzer Uniform zu den Aufzügen wies. Im dritten Stock angekommen, versanken Deborahs Füße fast in dem dicken, flauschigen Teppich, mit dem der Flur ausgelegt war. Sie machte ein paar Schritte auf die offene Flügeltür zu, hinter der wohl die Präsentation stattfinden sollte, und warf einen Blick in den weitläufigen Raum.
Die erste Person, auf die ihr Blick fiel, war Stefan. Er lehnte lässig an einem Tisch, in der Hand ein halb leeres Sektglas. Er war ins Gespräch mit einer hochgewachsenen älteren Frau in dunklem Hosenanzug vertieft, die der Tür den Rücken zukehrte. Von dem stoppeligen Dreitagebart, den Deborah normalerweise an ihm kannte, war heute nichts zu sehen, sein Kinn war glatt rasiert. Das wirre rotbraune Haar war ordentlich nach hinten gekämmt und im Nacken zu einem kleinen Pferdeschwanz gebändigt. Er hatte seine abgewetzten Jeans gegen eine enge graue Chino-Hose getauscht. Dazu trug er ein rosarotes kurzärmeliges Hemd und eine silbergraue Krawatte. Obwohl die Kombination ein wenig nach Schuluniform aussah, wirkte er darin sehr souverän.
Deborah war so überrascht, dass sie stehen blieb. Am liebsten wäre sie umgekehrt. Ihre Begleiter schlossen zu ihr auf und Carl bemerkte ihr Zögern. Vielleicht hatte sie auch einen leisen Laut der Überraschung ausgestoßen, jedenfalls wandte er sich ihr zu.
»Komm, Deborah, du musst nicht nervös sein!« Mit diesen Worten lächelte er ihr aufmunternd zu. Er ergriff ihre Hand und zog sie mit sich. In diesem Moment blickte Stefan herüber. Seine Augen weiteten sich ungläubig. Deborah sah es und sofort stieg der alte Groll wieder in ihr hoch. Er hatte kein Recht, über ihr Leben zu bestimmen!
Trotzig löste sie ihre Hand aus der von Carl und hakte sich bei ihm unter. Carl sah sie einen Moment lang erstaunt an. Dann grinste er und winkelte den Arm ab. Gemeinsam betraten sie den Raum. Ihre Hand ruhte auf seinem Unterarm und sie konnte das Spiel seiner Muskeln unter dem Sakko fühlen. Klaus hielt sich einen Schritt hinter ihnen.
Eine zierliche kleine Frau in eisblauem Businesskostüm, die Deborah auf Ende dreißig schätzte, kam ihnen freundlich lächelnd entgegen.
»Herzlich willkommen!« Sie reichte Carl die Hand. »Ich bin Marianne Leidenberg, die Projektleiterin für das Marketing. Sie sind sicher Carl Schulze?«
Sie wandte sich zu Deborah, die nur ungern ihre Finger von Carls Arm löste, und schüttelte ihr ebenfalls die Hand.
»Das ist Deborah Peters«, stellte Carl sie vor und verschwieg ihren Status als Praktikantin. »Und Klaus Rüdiger, mein Chefgrafiker.«
Frau Leidenberg nickte jedem von ihnen zu. »Ich freue mich sehr, dass Sie kommen konnten. Wo ist denn …« Sie sah sich um und winkte einen jungen Mann heran, der – in Anzug und Krawatte – ein Tablett mit Sektgläsern balancierte.
»Marco, kommen Sie bitte!«, rief sie und deutete auf die drei Neuankömmlinge. Der junge Mann nickte. Er eilte herbei und Frau Leidenberg wandte sich der nächsten Gruppe zu.
Carl nahm zwei Gläser vom Tablett. Eines reichte er an Deborah weiter und prostete ihr zu.
»Auf unsere Zusammenarbeit«, sagte er und sah ihr dabei tief in die Augen.
»Auf unsere Zusammenarbeit«, wiederholte Deborah. Ein wenig fühlte sie sich wie ein Kaninchen unter dem Blick einer Schlange.
»Prost, ihr zwei!« Klaus brach den Bann. Er stieß sein Glas gegen die von Carl und Deborah und trennte ihren Blickkontakt.
Sie fuhren auseinander. Deborah lachte verlegen und wandte sich ab. Ihr Blick fiel auf Stefan, der jetzt ein volles Glas in der Hand hielt. Er musterte sie mit einer Intensität, die ihr fast schon unheimlich war. War das wirklich derselbe Stefan, mit dem sie die letzten vier Jahre zusammen gewesen war? Dieser Ausdruck von unterdrückter Wut in seinen Augen war ihr völlig fremd. Sie leuchteten normalerweise in einem warmen Braun, doch nun waren sie fast schwarz im Schatten der eng zusammengezogenen Brauen.
Er schien der groß gewachsenen Frau an seiner Seite kaum zuzuhören. Als er sah, dass Deborah ihn beobachtete, drehte er sich jedoch seiner Gesprächspartnerin zu und begann, lebhaft auf sie einzureden. Es war Sabine Schallert, Leiterin der Agentur Shouting People, und jeder, wirklich jeder in der Branche kannte sie.
Carl hatte sich inzwischen ein paar Schritte entfernt. Er war mit einem etwa fünfzigjährigen Mann im Gespräch, der trotz der Hitze eine abgewetzte Lederjacke mit Nieten an den Ärmeln trug. Die langen Haare, der dichte schwarze Bart und die Schirmkappe ließen ihn wie ein Mitglied einer Motorradgang wirken.
»Wer ist das?«, fragte Deborah Klaus und nickte zu dem Mann hinüber.
»Das ist Tom Herwig, der Art Director von der Schallert«, erklärte Klaus. »Er ist ein ganz alter Hase im Geschäft.«
»Und offenbar jemand, der sich nicht viel um gesellschaftliche Konventionen schert, oder?«
»Tom nicht, nein. Der hat das auch nicht nötig«, gab Klaus ihr recht.
Nun gesellte sich Sabine Schallert zu Carl und Tom. Sie und Carl begrüßten sich mit Wangenküssen. Tom kam zu ihnen herüber. Klaus stellte Deborah vor, aber das Gespräch drehte sich schnell um gemeinsame Bekannte von Klaus und Tom, die sie nicht kannte.
Sie klinkte sich bald aus und schlenderte stattdessen durch den Raum. Sie betrachtete die gerahmten Bilder an den Wänden – hauptsächlich Produktfotos und Werbeplakate –, nahm noch ein Glas Sekt, als es ihr angeboten wurde, und fragte sich, wann die Präsentation endlich beginnen würde.
Carl folgte Deborah mit den Augen auf ihrer scheinbar ziellosen Wanderung. Sie blieb vor einem Werbeplakat stehen, das giftig rote Dragees in einer durchsichtigen Verpackung zeigte. Wohlgefällig betrachtete er ihren Po in der engen Hose, der sich unter dem hauchdünnen Blazer deutlich abzeichnete. Er atmete tief durch und versuchte, das beginnende Pochen zwischen seinen Beinen zu ignorieren. Während Deborah langsam weiterging, fiel ihm der junge Mann auf, der sie von der anderen Seite des Raumes mit brennenden Augen anstarrte. Sie schien es nicht zu bemerken.
»Wer ist das?«, fragte er Sabine Schallert, die neben ihm stand. Sie erzählte ihm irgendetwas, aber er hörte nur mit halbem Ohr zu.
»Wer?« Sie unterbrach ihren Satz und sah sich um.
Er deutete mit dem Sektglas in der Hand hinüber. »Der junge Mann da drüben. Du hast dich vorhin ziemlich lange mit ihm unterhalten.«
»Ach der.« Sie lachte leise. »Das ist Stefan Schrödinger. Einer von den jungen aufstrebenden Talenten, die es um jeden Preis allein schaffen wollen.«
Carl zog skeptisch die Augenbrauen hoch. »Allein? Wie meinst du das?«
»Stefan hält nicht viel von den großen Agenturen. Aber er ist wirklich gut. Ich traue ihm zu, dass er es sogar schaffen könnte.«
»Woher kennst du ihn?«
»Er hat bei mir ein Praktikum gemacht, das ist schon einige Jahre her. Das brauchte er nämlich für die Uni. Ich hätte ihn sofort eingestellt, aber er wollte nicht. Er arbeitet zwar manchmal für mich, aber ich bekomme ihn nur als Freelancer.«
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