Vielleicht hätte er sie gehen lassen sollen. Vielleicht wäre es besser gewesen, ihren Schritt in eine große Agentur zu unterstützen, anstatt sie ganz für sich behalten zu wollen. Dann wäre sie ihm vielleicht Freundin und Partnerin geblieben. Aber nun war es zu spät, zu viele bittere Worte waren gefallen. Zu viel Geschirr war zerschlagen worden, als dass sich das so einfach wieder kitten ließe. Es war zu spät.
Er schaufelte das Essen in sich hinein, an den Geschmack nach Pappkarton hatte er sich inzwischen gewöhnt. Er zwang seine Gedanken in eine andere Richtung. Die morgige Präsentation. Wer waren die beiden anderen Kandidaten? Würde es dieses Mal reichen, um zu gewinnen? Was hätte das für Konsequenzen für ihn und seine Arbeit? Er bräuchte wohl ein oder zwei Freelancer, wofür er sich weiter verschulden müsste. Er hatte sich nach Deborahs Auszug sehr kurzfristig zur Teilnahme entschlossen und schon einen Kredit aufgenommen, um nur den Grafiker für seine Entwürfe zu bezahlen. Aber es würde sich lohnen, vielleicht nicht so sehr in finanzieller Hinsicht, aber umso mehr für seine Reputation. Er könnte endlich aus der Masse der vielen Talentierten heraustreten und zum ersten Mal mit einer Kampagne in der großen Öffentlichkeit stehen.
Er lachte laut auf. »Hör auf zu träumen, Schrödinger«, sagte er laut, während er das Geschirr in die Küche trug und es auf der vollgeräumten Arbeitsfläche abstellte. Josh kam ihm hinterhergetrabt. Offenbar fühlte er sich angesprochen, denn er stand nun mit wedelndem Schwanz neben ihm.
Stefan nickte ihm zu. »Bist ein feiner Hund!« Er schob die restlichen Nudeln von seinem Teller in die Schüssel des Hundes und kippte eine Handvoll Hundefutter darüber. Mit der Gabel rührte er Nudeln und gepresstes Trockenfleisch um, bevor er den Napf auf den Boden stellte.
»Langsam, niemand frisst dir etwas weg«, bremste er den Hund, der das Futter sofort in sich hineinzuschlingen begann. Josh liebte Nudeln, genau wie Debbie. Früher hatten sie oft zusammen gekocht, Fertiggerichte aus dem Tiefkühlregal hatte es so gut wie nie gegeben.
Stefan schob den Gedanken mit Gewalt beiseite. Er ging ins Wohnzimmer und schaltete die Stereoanlage ein. Die epischen Klänge von Nightwish und die Stimme von Tarja Turunen erklangen. Er holte eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank, bevor er sich in seinen Lieblingssessel fallen ließ. Er schloss die Augen, als die kalte Flüssigkeit seine Kehle hinunterrann, und seufzte tief. Es war heiß in seiner Wohnung, obwohl die Fenster den ganzen Tag geschlossen waren und Jalousien die Sonne aussperrten. Nur im Bad und im Schlafzimmer, die nach hinten in den Lichthof hinausgingen, waren sie weit geöffnet, aber das reichte nicht aus, um den Altbau bei 36 Grad Außentemperatur kühl zu halten.
Deborah blickte von ihrer Arbeit auf. Ein Schatten war auf ihre Zeichnung gefallen. Sie wandte sich um. Carl Schulze stand halb hinter ihr und schaute ihr über die Schulter. Wie lange beobachtete er sie schon?
Die Kehle wurde ihr eng. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, wie immer, wenn er sie so ansah. Ein wenig herausfordernd und dabei leicht amüsiert, als ob es ein Spiel wäre, von dem er wusste, dass sie es noch nicht begriffen hatte.
Sie schob den Stuhl zurück und stand eilig auf. Seine Gegenwart schüchterte sie ein, da wollte sie nicht noch zu ihm aufschauen müssen, zumindest nicht mehr als notwendig. Er wich nicht aus, als sie sich erhob. Der schwache Duft seines Aftershaves stieg ihr in die Nase. Selbst im Stehen überragte er sie noch um fast dreißig Zentimeter. Schnell trat sie einen Schritt zur Seite, um seiner körperlichen Nähe zu entkommen.
Carl Schulze sah nicht nur blendend aus, er kleidete sich dazu noch mit einer lässigen Eleganz, um die Deborah ihn beneidete. Er war erfolgreich in allem, was er tat, und er war sich dessen vollkommen bewusst. Das war zumindest die Ausstrahlung, die er wie einen Schild vor sich hertrug und die dazu führte, dass sie sich neben ihm klein und unbeholfen vorkam.
Seine Mitarbeiter führte er mit fester Hand. Er brachte sich überall ein, lobte selten und kritisierte oft, aber seine Kritik war immer durchdacht und hilfreich. Ein Lob aus seinem Mund empfand Deborah als etwas ganz Besonderes.
Ihre Initiativbewerbung war ein Schuss ins Blaue gewesen. Eine spontane Aktion, um der beruflichen Enge mit Stefan zu entkommen, die sie immer mehr wie ein Gefängnis empfunden hatte. Dass sie sich ausgerechnet bei Schulze & Niess beworben hatte, war ebenfalls Stefan geschuldet, der die Kultagentur von Carl Schulze und Boris Niess abwechselnd als das größte Vorbild oder den schlimmsten Feind betrachtete, je nach Auftragslage und Kontostand.
Sie hatte überhaupt nicht damit gerechnet, die Praktikantenstelle zu bekommen. Schulze & Niess hatten noch nie einen Praktikanten länger als einen Monat beschäftigt. Deborahs Anstellung war ein Novum und eine Chance, die sie um jeden Preis nutzen wollte.
All das ging ihr in den wenigen Augenblicken durch den Kopf, die Carl brauchte, um sich über ihre Skizzen zu beugen. Durch den offenen Ausschnitt seines Hemdes blickte sie direkt auf seine nackte Brust, dicht bedeckt von lockigen schwarzen Haaren. Ihre Wangen wurden heiß, aber zum Glück sah er sie nicht an, sondern war auf ihre Zeichnung konzentriert.
Er musterte die Bewegungsstudien der kleinen Figur, an der sie gearbeitet hatte. Es war die stilisierte Silhouette einer Tänzerin mit übertrieben schlanker Taille und langen Beinen im Stil der Zwanzigerjahre, die sich in lasziven Posen auf diversen Buchstaben rekelte.
»Ist das für die Narula Bar?«, fragte er und deutete auf die Zeichnungen.
Deborah nickte. »Ja«, krächzte sie. Sie räusperte sich und verfluchte im Stillen ihre Nervosität. Er war doch immer freundlich zu ihr, warum um alles in der Welt war sie dann in seiner Gegenwart jedes Mal so verunsichert?
»Ja, genau. Klaus hat den Schriftzug fertig und ich soll die Tänzerin draufsetzen.«
»Darf ich?« Carl nahm die Zeichnung, ging damit zum Fenster und hielt sie ins Licht. Deborah folgte ihm. Er musterte jede Skizze und wendete dabei das Blatt hin und her. Sie betrachtete währenddessen sein Profil, die klassische gerade Nase, die sinnlich geschwungenen Lippen und die dunklen Schatten auf Kinn und Wangen. Unwillkürlich fragte sie sich, wie sich sein Mund auf ihrer Haut anfühlen würde. Sie schloss kurz die Augen und rief sich selbst zur Ordnung.
»Es sind nur Studien«, beeilte sie sich zu erklären. »Ich habe noch gar nicht richtig angefangen.«
Carl schüttelte den Kopf. Eine dunkle Strähne fiel ihm in die Stirn. »Nein, Deborah, das ist schon recht gut. Diese hier oben, wo die Tänzerin auf dem B von Bar sitzt, das gefällt mir. Kannst du das mal größer und am Computer machen?«
Deborah atmete tief durch und nickte. »Ja, Herr Schulze.« Ihr Herz schlug bis zum Hals, vor Freude über sein Lob wahrscheinlich, und ihre Hände waren feucht.
»Gib ihr noch ein bisschen mehr Oberweite, schließlich ist das ein Nachtklub und kein Restaurant.« Er reichte ihr das Blatt zurück und sah sie aufmerksam an. »Wie lange bist du jetzt schon bei uns?«
»Zwei Monate«, erwiderte Deborah. Was kam jetzt?
»Dann wird es Zeit, dass du Carl zu mir sagst.« Er hob einen Mundwinkel zu einem halben Lächeln und zwinkerte ihr verschmitzt zu. Mit der Hand fuhr er sich durch das schwarze Haar, eine seltsam jungenhafte Geste für den großen Mann. »Wir sind hier alle per Du.«
»Ja, äh, danke, Herr Sch…, äh, Carl, ja …«, stammelte sie. Nun hatte er sie schon wieder aus dem Konzept gebracht.
Er legte ihr die Hand auf die Schulter und drückte sie sanft. »Du machst tolle Arbeit, Deborah, das wollte ich dir schon länger sagen.« Er lächelte anerkennend. »Klaus hat mir erzählt, wie gut du dich bei der Schmerzmittelkampagne der Firma Rheopharm eingebracht hast.«
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