Religion ist für mich aber auch nicht das «Opium des Volkes», wie Karl Marx sie 1844 charakterisierte, weil er davon ausging, dass der Mensch die Religion macht, nicht die Religion den Menschen. Diejenigen, die dagegen der Überzeugung waren und sind, dass Religion den Menschen unfrei macht, wandeln dann gern diese Aussage in die Behauptung um, Religion sei «Opium für das Volk». Und dieses Opium wurde und wird verabreicht von den – wie es Franziskus oben sagt – falschen Propheten, von den religiösen ‹Sicherheitsexperten und -expertinnen› mit ihrer statischen und rückwärtsgewandten Vision oder von den – biblisch gesprochen – Pharisäern und Schriftgelehrten, die Jesus selbst heftigst attackierte, wie man im 23. Kapitel des Matthäus-Evangeliums nachlesen kann:
«Die Schriftgelehrten und die Pharisäer haben sich auf den Stuhl des Mose gesetzt. Tut und befolgt also alles, was sie euch sagen, aber richtet euch nicht nach dem, was sie tun; denn sie reden nur, tun selbst aber nicht, was sie sagen. Sie schnüren schwere Lasten zusammen und legen sie den Menschen auf die Schultern, wollen selber aber keinen Finger rühren, um die Lasten zu tragen. Alles, was sie tun, tun sie nur, damit die Menschen es sehen: Sie machen ihre Gebetsriemen breit und die Quasten an ihren Gewändern lang, bei jedem Festmahl möchten sie den Ehrenplatz und in der Synagoge die vordersten Sitze haben, und auf den Straßen und Plätzen lassen sie sich gern grüßen und von den Leuten Rabbi (Meister) nennen…
Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr verschließt den Menschen das Himmelreich. Ihr selbst geht nicht hinein; aber ihr lasst auch die nicht hinein, die hineingehen wollen… Ihr gebt den Zehnten von Minze, Dill und Kümmel und lasst das Wichtigste im Gesetz außer Acht: Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Treue… Blinde Führer seid ihr: Ihr siebt Mücken aus und verschluckt Kamele… Ihr haltet Becher und Schüsseln außen sauber, innen aber sind sie voll von dem, was ihr in eurer Maßlosigkeit zusammengeraubt habt… Ihr seid wie die Gräber, die außen weiß angestrichen sind und schön aussehen; innen aber sind sie voll Knochen, Schmutz und Verwesung. So erscheint auch ihr von außen den Menschen gerecht, innen aber seid ihr voll Heuchelei und Ungehorsam gegen Gottes Gesetz… Ihr Nattern, ihr Schlangenbrut! Wie wollt ihr dem Strafgericht der Hölle entrinnen?»
Es könnte mich wütend und frustriert machen, wenn ich im Verweisapparat unter dieser Bibelstelle lese, wie oft solche Anklagen auch längst vor Jesus geäußert wurden: Propheten im Alten Testament wie Jesaja, Amos, Micha und viele mehr hatten sich mit demselben Problem befasst und ebenso harsche Kritik geübt. Auch in der zweitausendjährigen Geschichte des Christentums gab es immer wieder solche Prophetinnen und Propheten, die zu Recht Anklage erhoben gegen die ‹Mächtigen› der Kirchen, sei es ein Franz von Assisi, eine Katharina von Siena, ein Martin Luther und viele mehr. Und was hat es letztendlich genützt?
Zuletzt hat mal wieder der wegen seiner Offenheit von vielen geschätzte, aber sicher auch von vielen gehasste Papst Franziskus in diese Bresche geschlagen, als er in seiner Ansprache an die Mitglieder der römischen Kurie, also Kardinälen wie anderen Bediensteten, beim traditionellen Weihnachtsempfang 2014 die Leviten las und von 15 «Krankheiten» sprach, die er auch im Vatikan immer wieder entdecke: die Krankheit, sich für unsterblich oder unverzichtbar zu halten; die Krankheit der mentalen und spirituellen Versteinerung, der exzessiven Planung und der schlechten Koordinierung; die Krankheit des ‹geistlichen Alzheimers›, der Rivalität und der Eitelkeit sowie der existentiellen Schizophrenie; die Krankheit des Geschwätzes und des Klatsches oder auch, die Oberen zu hofieren zu Gunsten des eigenen Karrierismus und Opportunismus; die Krankheit der Gleichgültigkeit gegenüber den anderen; die Krankheit, immer traurig oder schwermütig herumzulaufen oder den anderen gegenüber immer ein strenges Gesicht zu zeigen, das nur so von Härte, Starre und Arroganz zeuge; die Krankheit des Anhäufens materieller Güte, der geschlossen Kreise und der Zugehörigkeit zu Grüppchen; und schliesslich die Krankheit derer, die danach trachteten, unersättlich ihre Macht zu mehren, und zu diesem Zweck fähig seien, zu verleumden und andere in Misskredit zu bringen.
Diese «Krankheiten», das muss ja auch mal – und keineswegs relativierend – gesagt sein, gibt es nicht nur in der römisch-katholischen Kirche und innerhalb der Religionen, Konfessionen oder Denominationen (also Bekenntnisgruppen innerhalb einer Religion wie römisch-katholisch oder evangelisch-reformiert, sunnitisch oder schiitisch, vishnuitisch oder shivaitisch und viele andere). Sie sind weltweit auf diesem Erdkreis zu finden.
Aber wenn halt auch in den Religionen: ist es demzufolge verwunderlich, wenn nicht wenige immer wieder postulieren: die Religionen gehören abgeschafft, weil auch sie – entgegen ihren hohen moralischen Ansprüchen – für Kriege, Unterdrückung, Ungerechtigkeit und Heuchelei verantwortlich seien?! Ich kann diese Haltung gut verstehen – aber ich teile sie nicht! Denn diese Sichtweise sieht nur eine der beiden Waagschalen und ist nicht in der Lage, eine Relation herzustellen zu dem, was Religion für die Menschheitsfamilie ebenso bedeutet. Und wer umfassend von Religion sprechen will, muss auch diese andere Seite in Betracht ziehen!
Es mag manche erschrecken, wenn ich als christlich-katholischer Theologe nun bekenne: für welche Religion oder Weltanschauungen sich ein Mensch entscheidet, an welche er sich bindet und in welcher er seine Heimat und Geborgenheit findet, ist zunächst einmal völlig gleichgültig. Viel entscheidender ist: Was wird aus der jeweiligen Religion oder Weltanschauung als zentral, als wesentlich angesehen und geglaubt?
Der heute populärste und bekannteste Vertreter des Hinduismus ist vermutlich Mahatma Gandhi, der des Buddhismus der Dalai Lama. Für einen sehr offenen Islam ist wohl der Arzt, Wissenschaftler und Philosoph Ibn Sina durch den Bestseller und Spielfilm «Der Medicus» bekannt, der im 11. Jahrhundert in Isfahan die bedeutendste Schule für angehende Mediziner der damaligen Welt leitete. Schon als Gymnasiast habe ich aus dem Judentum den in Lessings Drama «Nathan der Weise» charakterisierten Moses Mendelssohn (1729 - 1786), den Begründer der jüdischen Aufklärung, schätzen gelernt. Später dann, schon als Theologiestudent, imponierte mir der deutsch-israelische Journalist und Religionswissenschaftler Schalom Ben-Chorin (1913 - 1999). Der derzeit wohl populärste prophetische Repräsentant des Christentums ist für mich heute unverkennbar Papst Franziskus, auch wenn ich nicht mit allem einverstanden bin, was er so sagt und tut.
Wer sorgfältig bedenkt oder studiert, was Vertreterinnen und Vertreter ganz verschiedener Religion und Konfessionen sagen, wird schnell zu Erkenntnis gelangen, dass es auch heute noch genügend von dem Typ eines Ghandi, Ibn Sina, Moses Mendelssohn usw. gibt. Für mich als Theologe war es quasi ein Aha-Erlebnis, als ich auf Bücher stieß wie «Islam ist Barmherzigkeit» des Islamwissenschaftlers Mouhanad Khorchide, Professor für islamische Religionspädagogik am Centrum für Religiöse Studien und Leiter des Zentrums für Islamische Theologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster. Oder auch auf Aussagen von Ahmad Milad Karimi, die er in dem Buch «Im Herzen der Spiritualität», zusammen mit Pater Anselm Grün OSB, geschrieben hat:
«Muslime können Terroristen sein, aber der Terror ist nicht islamisch; Muslime können Gewalt ausüben, aber die Gewalt an sich ist nicht islamisch; Muslime können ungerecht sein, aber die Ungerechtigkeit ist nicht islamisch; Muslime können aus dem Islam eine ideologische Bewegung formen, aber die Ideologie ist nicht islamisch; Muslime können anderen Menschen Schmerz und Leid zufügen und die Welt in Angst und Schrecken versetzen, aber die Erniedrigung des anderen ist nicht islamisch. Kurz: Muslime können ihre Religion verfehlen, aber die Verfehlung der Religion ist nicht Teil der Religion selbst. … Der Islam wird dann zum Islamismus, wenn die Religion zur Legitimation der Gewalt missbraucht wird, wenn der Sinn für Bewahrung in Lust auf Zerstörung pervertiert, wenn die in der Bewertung des anderen geforderte Demut in Überheblichkeit ihm gegenüber und in Missachtung des anderen umschlägt, wenn die Vielfalt des Lebens unterdrückt wird und verkümmert, wenn die Rede von Gerechtigkeit und Frieden der Gewalt dient – und nicht umgekehrt, wie es die Maxime des Islam darstellt."
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