So fühlt es sich also an, wenn der Todeskandidat auf den elektrischen Stuhl geschnallt wird, dachte ich mir. Jetzt war ich Dr. Jacobsen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.
Er hielt den Bohrer direkt vor mein Gesicht und ich bekam eine Höllenangst, als dieses Ding die typischen Pfeifgeräusche von sich gab. Natürlich wollte ich den Mund nicht öffnen. Doch Dr. Jacobsen scheute sich nicht, mir dafür eine Ohrfeige zu verpassen.
Eine Betäubung gab’s auch nicht und so schrie ich natürlich, wenn der Bohrer des Öfteren den Zahnnerv traf - und das kam nicht selten vor. Der Zahnarzt schimpfte, ich solle mich nicht so anstellen!
Kam er nicht umhin, mir eine Spritze zu geben, weil ein Zahn gezogen werden musste, zog er das Narkosemittel direkt vor meiner Nase in die Kanüle. Dann prüfte er die Funktionstüchtigkeit der Zange durch demonstratives Aneinanderklacken der Zangenspitzen vor meinen Augen. Wie gesagt, ein echter Folterknecht!
Beim zweiten Behandlungstermin rief er meine Mutter aus dem Wartezimmer in den Folterraum und zeigte ihr das Loch zwischen meinen oberen vorderen Schneidezähnen. Ich habe später, als ich bereits über 20 Jahre alt war, Zahnärzte kennengelernt, für die das Reparieren dieses Loches kein Problem dargestellt hätte. Aber Dr. Jacobsen überzeugte meine Mutter, dass er die Schneidezähne ziehen müsse - und die zwei Zähne daneben ebenfalls.
Ich war ja gerade erst 12 Jahre alt und das Dilemma bestand darin, dass diese Zähne keine Milchzähne mehr waren. Also nicht mehr nachwachsen konnten. So sollte ich in diesem jungen Alter bereits eine Zahnprothese bekommen. Aus heutiger Sicht unfassbar!!
So kam der Tag, an dem mir unter Zuhilfenahme von Lachgas, meine vier oberen Schneidezähne rausgerissen wurden. Ich war nun mit 12 Jahren Gebissträger. Dieser Tag veränderte meine Persönlichkeit. Ich schämte mich, wurde oft wegen meiner Zahnlosigkeit gehänselt und zog mich dadurch auch immer mehr zurück. Kurz - ich steckte jetzt voller Komplexe. Kaum jemand kann nachvollziehen, was man mir und meiner Seele damit angetan hatte! Ein Zahnarzt, den ich später kennenlernte, war entsetzt über diese Tatsache, und dass meine Eltern der Prozedur zugestimmt hatten. Er empfahl mir, den Arzt im Nachhinein zu verklagen - aber zu diesem Zeitpunkt weilte Dr. Jacobsen bereits nicht mehr unter den Lebenden.
Als meine Altersgenossen anfingen ihre ersten Kontakte mit dem anderen Geschlecht zu pflegen, fühlte ich mich als Außenseiter. Ich war ohnehin immer sehr schüchtern gegenüber der holden Weiblichkeit gewesen, doch nun traute ich mich überhaupt nicht mehr an Mädchen heran. Ganz einfach weil ich Angst hatte, wegen meinem »Gebiss« von ihnen ausgelacht zu werden. Und so steigerte sich meine Schüchternheit und Verklemmtheit noch mehr. Meinen ersten Kuss von einem Mädchen bekam ich dadurch übrigens erst im Alter von 18 Jahren.
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Im Sommer 1969 - ich war erst 14 Jahre alt - hatte ich dann meinen Hauptschulabschluss und wurde aus der Schule entlassen. Zu diesem Zeitpunkt war ich nur 8 Jahre zur Schule gegangen, hatte aber alle 9 Klassen durchlaufen!
Jetzt fragt man sich natürlich, wie sowas gehen kann. Denn ein Wunderkind war ich keinesfalls. Es ergab sich einfach durch folgende Umstände.
1961 - ich war im Januar 6 Jahre alt geworden - wurden die Kinder zu Ostern eingeschult und sollten dann nach Beendigung des 8. Schuljahres in das Berufsleben entlassen werden. Dann kam irgendjemand auf die Idee, den Einschulungstermin in den Herbst zu verlegen und gleichzeitig die Schulzeit von bisher 8 auf 9 Pflichtjahre zu verlängern. Aufgrund dessen wurden in den Jahren 1966 und 1967 zwei Kurzschuljahre durchgeführt. Und der Begriff »Volksschule« wurde nun in »Hauptschule« geändert.
So ging ich also ein halbes Jahr in die 6. und anschließend ein halbes Jahr in die 7. Klasse. Nach Abschluss der Klasse 9 war ich also gerade 14 Jahre alt. Allerdings behaupte ich, dass ich mit vierzehn Jahren bildungsmäßig mehr auf dem Kasten hatte, als heute 16-jährige Realschüler. Ein Verdienst des damaligen Schulsystems und seiner Lehrkräfte. Wir lernten das, was wichtig war. Aber dafür sehr intensiv.
Kapitel 9: Lehre und Wohnheim
Eine Lehrstelle zu bekommen war 1969 leichter als heute, … zu blöd durfte man aber auch damals nicht sein.
Ich hatte mich bereits während meiner Schulzeit besonders für Chemie und Physik interessiert und wollte daher irgendetwas in dieser Richtung erlernen. Chemie hieß für mich: Man kippt etwas zusammen - dann knallt und zischt es - und am Ende kommt dabei etwas völlig Neues heraus. So ungefähr stellte ich mir das jedenfalls vor.
Es gab da allerdings ein kleines Problem. Leider waren bei uns im Norden kaum Chemielaboranten-Ausbildungsplätze vorhanden. Und wenn es sie gab, hatten Realschüler ganz klar die Nase vorn.
Aber da gab’s ja noch den guten Onkel vom Arbeitsamt. Und der stellte mir tatsächlich eine Lehrstelle in Aussicht - allerdings in Wuppertal. Das war zwar über 500 km von zuhause entfernt, doch sollte mich das nicht stören. Im Gegenteil - endlich würde ich dann über die Grenzen von Rendsburg hinauskommen!
Ich war 14 Jahre alt, relativ dünn und 162 cm groß - also ein echtes Bübchen. Aber ich wollte den angebotenen Chemikanten-Ausbildungsplatz unbedingt haben! Auch meine Eltern waren damit einverstanden, denn das Arbeitsamt würde mich in einem Lehrlingswohnheim unterbringen. Was bedeutete, dass ich trotzdem weiterhin unter Aufsicht war. Da die Unterkunft vom Amt finanziert werden würde, entstanden für sie ebenfalls keine zusätzlichen Kosten. Und auch die Erziehungspflicht hatten sie dadurch vom Hals. Deshalb stand einer Ausbildung zum Chemikanten, bei der Lackfabrik Dr. Kurt Herberts in Wuppertal-Elberfeld, nichts im Wege.
Am 31. September 1969 setzten mich meine Eltern, mitsamt einem Pappkoffer und einer Reisetasche, in den Zug. Ich fuhr in einen neuen, aufregenden Abschnitt meines Lebens.
Jetzt war ich Knirps alleine - und größtenteils auf mich selbst gestellt. Das war zwar sehr hart, aber durch diesen Umstand bin ich sehr schnell erwachsen geworden. Und komischerweise bin ich dann auch schnell gewachsen - in einem Jahr fast 20 cm.
Ich verdiente im ersten Lehrjahr 120 DM, musste jedoch die Kohle komplett an das Lehrlingsheim abdrücken. Dafür bekam ich am Monatsbeginn vom Heimleiter 30 DM Taschengeld ausgezahlt, finanziert aus Mitteln des Arbeitsamtes. Das war natürlich auch zu damaliger Zeit nicht besonders viel. Und so war ich oft bereits am 15. des Monats pleite und musste Kumpels mit besser situierten Eltern anpumpen. Am 1. des Monats zahlte ich meine Schulden zurück – und war danach bald wieder klamm!
Mit noch drei anderen Jungs meines Alters wohnte ich auf »Stube 14« - so wurde unsere acht Quadratmeter große Behausung genannt.
Klaus, Werner und Heinz hießen meine Mitbewohner. Und wenn wir mal Bockmist gebaut hatten, gab’s vom Heimleiter was an die Backen. Da wir zu den Jüngsten im Heim gehörten, gab’s natürlich auch öfter Prügel von den Älteren (und Stärkeren). Doch schon damals galt der Spruch: »Was uns nicht kaputt macht – macht uns härter«. Und so war es dann auch.
Wir hörten Musik von Deep Purple, Black Sabbath, Pink Floyd und Jethro Tull - und später auch »Krautrock«. Der Begriff Krautrock stand für deutsche Bands. Unter ihnen die Jungs von »Kraftwerk«, die jede Menge psychedelisches Zeug spielten. Darauf fuhren wir mächtig ab.
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