Ich blickte sie verständnislos an.
„Kenn ich nicht.“ Um nicht völlig ahnungslos zu wirken, fügte ich hinzu. „Also…ich hab Taxi Driver gesehen und Good Fellas . Aber den kenn ich nicht.“
Simone lächelte. „Das IST Good Fellas. Also die Vorlage. Der Roman.“
„Ach so….das ist… wusste gar nicht, dass es dazu ein Buch gibt. Ich dachte dieser Mafioso hätte wirklich gelebt.“
Wieder lächelte Simone. Im Gegensatz zu ihrer Schwester wirkte sie nicht spöttisch oder feindselig.
„Das stimmt ja auch. Dieser Pileggi hat eben über einen echten Fall geschrieben. Sozusagen als Inspiration.“
„Ach so“, sagte ich. Und diesmal musste ich auch lächeln.
„Und?“ fragte Simone.
„Und was?“
„Na guckst du De Niro?“
„Ach so. Nein. Stargate. Science-Fiction. Da spielt de Niro bestimmt nicht mit.“
„Nein“, grinste Simone. „De Niro hat ein bisschen mehr Klasse. Mit wem gehst du?“
Steffi rief von der anderen Straßenseite rüber. Ich blickte zwischen den Schwestern hin und her.
„Ich glaub Steffi will los“, sagte ich schnell.
„Oh ja. Wir wollen rüber zu den Ammies. So ein Soldat hat Steffi zum Bowling eingeladen. Sie wollte unbedingt, dass ich mitkomme.“
„Oh. Klingt toll.“
Simone rollte mit den Augen.
„Bowling ist absolut bescheuert. Findet Steffi auch. Aber deswegen ist sie ja auch nicht hier, verstehst du?“
Sie zwinkerte. Ich nickte. Steffi rief.
„OK. Ich muss. Wenn du willst kannst du das Buch gerne mal ausleihen. Aber ich sag’s nicht gern: der Film ist besser. Im Buch fehlt De Niro.“
„Klar“, stammelte ich. „Gern.“
Sie streckte mir das Buch hin. „Weißt du was? Nimm’s einfach gleich. Ich bin eh fast durch.“
Ich nahm es, hielt das Buch aber mit ausgestrecktem Arm von mir weg.
„Willst du es nicht erst fertig lesen?“
Aber Simone war schon ein paar Meter weiter gelaufen.
„Ach was. Ich weiß eh wie es ausgeht. Und ohne De Niro macht es keinen richtigen Spaß. Wir sehen uns.“
Sie überquerte die Straße und ging einfach an ihrer Schwester vorbei, die lachend auf sie einredete und ihr dann folgte.
„Cool“, murmelte ich vor mich hin und blickte auf das Cover auf dem sich zwei Hände kreuzten, die beide eine Pistole hielten und je einen imaginären Gegenüber außerhalb des Bildrands bedrohten. „Wir sehen uns.“
Meiner Meinung nach irrte sich Simone. Das Buch war kein Meilenstein der Literaturgeschichte, aber es war gut. Es hatte Spannung, gute Sprüche, coole Gangster und es hatte De Niro. Man konnte ihn nicht sehen oder hören, aber gerade wenn man den Film kannte, war er überall in dem Buch. Es lag völlig auf der Hand, warum der Regisseur ihn für den Film ausgewählt hatte. Und Liotta, mit seinen glasigen Augen. Ich sah sein verlorenes Gesicht beim Lesen bildhaft vor mir. Ich bin ein durchschnittlicher Niemand. Ich werde den Rest meines Lebens wie irgendein Trottel verbringen . Das gefiel mir. Das kannte ich.
Am Montag in der großen Pause stattete ich den Fluppen den ersten Besuch meines Lebens ab. Ich hielt das Buch deutlich sichtbar in der Hand und hob es sogar etwas in die Höhe, als mich die ersten kritischen Blicke der rauchenden Mädchen trafen. Es war mein Kruzifix, meine Eintrittskarte, meine Berechtigung, mich dem Haufen zu nähern.
Als sie mich sah, löste sich Simone sofort aus der Gruppe und kam zwei Schritte auf mich zu.
„Ich bringe das Buch zurück, das ich mir geliehen habe“, sagte ich dabei so laut, dass möglichst viele der Mädels es hören konnten. Tatsächlich schien damit für die anderen alles geklärt. Sie ließen ihre Blicke sinken und konzentrierten sich ganz darauf, weiter ihre Fußspitzen anzustarren und dabei aus den Mundwinkeln Gespräche zu führen. Simone musterte mich mit einem forschenden Blick.
„Bringst du mir echt das Buch schon zurück?“
„Naja. Es gehört doch dir.“
Simone grinste.
„Ja tatsächlich. Es scheint genau das Buch zu sein, was ich dir vorgestern in die Hand gedrückt habe. Aber hast du es auch gelesen?“
„Ach so. Ja. Klar.“
Simone zog die Stirn in Falten.
„Scheint ein langweiliger Sonntag gewesen zu sein.“
Ich spürte die alt bekannte Beklemmung in meinem Hals aufsteigen. Doch statt mich um sie zu kümmern fixierte ich einen Punkt an der Wand der Turnhalle und sagte möglichst unbeteiligt.
„Nein. Gar nicht. Es war cool.“
Simone musterte mich eingehend und um ihren Mund schien etwas von dem spöttischen Grinsen ihrer Schwester zu zucken.
„Ooookayyy“, sagte sie gedehnt. „Und wie war der Film?“
„Der Film? Ach so, der Film. Naja… also es sah schon alles cool aus und so. Aber die Geschichte war Mist. Soldaten und ein Wissenschaftler, die durch ein Steintor auf einen anderen Planeten reisen, um dort die Welt zu retten.“
„Ach dieses Tor ist das Stargate oder was?“
„Ja, genau. Aber es ist alles total absurd. Am Ende wird der Fiesling mit einer Atombombe in die Luft gejagt und der Held bleibt auf dem fremden Planeten zurück, weil er seine Liebe gefunden hat.“
Es gab eine kleine Pause.
„Und mit wem warst du?“
Ich suchte wieder den Punkt an der Wand. Ich dachte an die Liste mit den coolen Sprüchen. Ich überlegte, ob ich die Frage vielleicht ignorieren konnte. Und dann tat ich etwas für mich völlig untypisches. Etwas, von dem ich bis heute nicht weiß, woher ich den Mut dazu hatte. Ich sagte: „Mit meiner Mutter.“
Simone sagte nichts.
Ich sagte nichts.
Simone hob den Kopf und blickte mir direkt in die Augen. Und dann sagte sie: „Ich war noch nie mit meiner Mutter im Kino.“
Ein paar Tage später verließ Simone den Schutz ihrer Raucherecke und kam quer über den Schulhof auf mich zu. In der Hand hielt sie eine Zeitung. Basti erzählte gerade vom Schwimmcamp in Frankreich und einer gewissen Véronique, von der ich zum ersten Mal hörte. Als er Simone kommen sah, verstummte er abrupt. Simone lächelte entspannt.
„Kann ich dich was fragen?“
„Klar“, antwortete ich.
Simone zögerte. Basti zog deutlich hörbar die Luft ein und drehte sich mit einem Grinsen weg.
„Ich lass euch mal.“
Ich versuchte ihn am Arm zu packen.
„Nein. Musst du nicht.“
Aber Basti kümmerte sich nicht um mich. Ich blickte ihm nach und drehte mich entschuldigend zu Simone.
„Keine Ahnung, was er hat.“
Simone hielt mir die Zeitung hin.
„Hier. Hast du gesehen?“
Auf den eng bedruckten Zeilen war etwas mit grünem Filzstift eingekreist. In den Straßen der Bronx. 19:30.
„Kennst du den schon?“
„Nein. Den nicht. Aber wieso läuft der noch im Kino?“
„Das De-Niro-Special. Weißt du noch?“
„Ach so. Klar. Wann ist das?“
„Donnerstag. Kommst du mit?“
„Donnerstag. Wohin? Ins Broadway?“
Simone nickte.
„Aber wie kommen wir denn da wieder zurück. Fährt um die Zeit noch ein Bus?“
Simone grinste.
„Da weiß ich schon was. Also, du kommst?“
„Ja.“ Ich nickte vielleicht etwas zu heftig, rieb mir den Nacken und blickte über Simones Schulter hinweg. „Gerne. Ich komme gerne.“
„Prima.“ Simone lächelte. Wir treffen uns um Viertel nach vorm Kino, OK?“
„OK.“ Ich lächelte auch. Simone verschwand. Basti kam zurück. Ich lächelte immer noch. Basti grinste.
„Hab ich was verpasst?“
„Nein“, sagte ich. „Nichts Erderschütterndes.“
Der Kinobesuch mit Simone war einer dieser Abende, die viel zu voll gepackt sind mit Ereignissen. Mein liebstes Kino. Mein liebster Schauspieler. Meine erste Verabredung. Vielleicht ist mir das an jenem Abend zum ersten Mal aufgefallen. Heute bemerke ich das ständig. Tage, Wochen oder Monate ziehen vollkommen ereignislos dahin und man würde sich freuen, wenn man vorm Zubettgehen wenigstens sagen könnte Heute habe ich einen echt interessanten Wortbeitrag im Kulturradio gehört und dann - Bumm. Alles auf einmal. Drei Veranstaltungen gleichzeitig, zu denen man eingeladen ist. Alle wollen am selben Tag zu Besuch kommen. Auf Arbeit steht ein entscheidender Termin an, die Freundin wartet mit Theaterkarten und ein alter Schulfreund hat Geburtstag. Alles wichtig, alles spannend, alles entscheidend - und alles zusammen viel zu viel.
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