Nach und nach gelang es mir, ein wenig von diesem Zauber in meinen Alltag hineinzutragen. Meine Unwissenheit in Latein versteckte ich hinter einer Maske aus gelangweilter Gleichgültigkeit. Dadurch verstand ich zwar nicht eine Silbe mehr von der toten Sprache, doch es führte verblüffenderweise dazu, dass ich weniger oft an die Tafel musste. Meine Angst vor den Schulrowdies überspielte ich mit einem irren Starren, dass ich mit Bastis Hilfe auf der Busfahrt zum Schwimmunterricht einstudiert hatte und sogar meine Schüchternheit in Gegenwart weiblicher Wesen, bekam ich besser in den Griff. Wenn ich nicht wusste was oder wie ich überhaupt etwas sagen sollte, starrte ich einfach angestrengt in die Ferne. Ich hoffte, dadurch nachdenklich oder gedankenverloren zu wirken. Das fand ich besser, als wie ein Volltrottel vor mich hin zu stottern. Von all meinen neuen Methoden funktionierte das zwar noch am schlechtesten und ich musste immer wieder Rückschläge hinnehmen, aber zumindest reichte es aus, um mich mit Simone Arndt fürs Kino zu verabreden.
Ich habe überlegt, ob diese Geschichte für Sie überhaupt interessant ist. Schließlich geht jeder 17-jährige doch irgendwann mal mit irgendeiner Simone ins Kino, ohne dass daraus gleich ein Fall für die Abendnachrichten wird. Objektiv gesehen hatte auch unser Kinobesuch keine erderschütternden Folgen. Es gab keinen Vulkanausbruch, keine Lavaströme. Die Landmassen um mich herum blieben an Ort und Stelle.
Und doch wirkte danach alles verändert. Es war, als hätte ich einen Gipfel erklommen und ein unbekanntes Tal entdeckt, das dahinter lag. Es sah vollkommen anders aus als alles, was ich bisher kannte: schön, wild, fremd und vor allem beängstigend.
Ich habe oft gedacht, wenn ich mich gleich am Anfang ein wenig weiter in dieses Tal hinein getraut hätte, dann wäre die Geschichte mit Liv vielleicht anders gelaufen. Ich hätte es einfach riskieren sollen. Voll reinstürzen. Und wenn ich irgendwo runtergefallen wäre - egal. Aber so bin ich nach wenigen Schritten umgekehrt und habe versucht, vom sicheren Gipfel aus alles zu verstehen. Ich muss zugeben, dass ich jetzt vielleicht wirklich etwas verwirrt klinge. Also der Reihe nach.
Simone Arndt war eine der Fluppen . So nannten wir die etwa zehn bis fünfzehn Mädchen, die in jeder Hofpause hinter der Turnhalle standen und rauchten. Die Besetzung der Gruppe wechselte ständig. Jahr für Jahr dezimierte der Schulabschluss die verrauchten Reihen gnadenlos, aber immer wieder kamen neue storchenbeinige Sechzehnjährige nach, die sich mit feuchten Augen durch die Aufnahmezigarette husteten. Viele von ihnen verschwanden kurz darauf wieder in der formlosen Masse des Schulhofs, andere standen an einem Tag in der Raucherecke am anderen nicht, aber ein kleiner Teil der Mädchen war praktisch immer da. Zu dieser Gruppe gehörte auch Simone Arndt.
Simone war ein Jahr jünger als ich und ich kannte sie schon seit der Grundschule. Wir waren nicht befreundet. Ich wusste eben wer sie war. Ihre ältere Schwester Steffi war in der Grundschule noch ein Jahr über mir und ging mittlerweile in meine Parallelklasse. Die Familie wohnte in der Neubausiedlung direkt hinter unseren Hochhäusern. Wenn man sich auf Bastis Balkon etwas vorreckte, konnte man das Haus gut sehen. Mit dem weinroten Ziegeldach, dem gepflegten Rasen, dem Carport für den Polo von Frau Arndt und der Garage für Herrn Arndts Mercedes, sah das Zuhause der Familie toll aus. Aber anscheinend war es nicht so toll. Simone und Steffi waren eigentlich immer unterwegs. Jede von ihnen hatte eine feste Clique und wenn bei keiner ihrer Freundinnen irgendwas los war, hingen die Schwestern zusammen in der Stadt rum oder fuhren rauchend mit Steffis uraltem, blauen Renault 4CV durch die Gegend. Für Basti war die Familie ein klassischer Fall. „Zu viel Geld - zu wenig Hirn. Die Alten Spießer - die Kinder Hippies.“ Möglich, dass er recht hatte.
Nur dass mit dem Hirn stimmte meiner Meinung nach nicht ganz - zumindest bei Simone. Zum einen las sie Salinger und Kerouac und all diesen Kram und zum anderen - und das war für mich das überzeugendere Argument - trug sie T-Shirts von New Model Army und den Ärzten. Wer die Ärzte hörte, konnte nicht vollständig blöd sein.
Zufälligerweise war es dann auch bei einer echten Intellektuellenversammlung, auf der wir die ersten Worte miteinander wechselten, einem Matchday vom Schachclub meiner Mutter. Als ich kleiner war, hatte sie mich immer zu diesen Spieltagen mitgeschleppt. Zum einen, weil sie nicht wusste, wo sie mich hätte unterbringen sollen. Zum anderen hatte sie wohl die Hoffnung, dadurch ein kleines Genie aus mir zu machen. Ich sah das in ihrer anfänglichen Begeisterung, wenn es mir gelang, einen deutlich älteren Gegner zu schlagen. Vor allem aber bemerkte ich es in der stillen Enttäuschung, wenn ich vollkommen chancenlos unterging. Es schien beim Schach eine Art unsichtbare Grenze für mich zu geben, über die ich niemals hinauskam. Meine Mutter operierte jenseits dieser Grenze. Sie spielte ein ganz anderes Spiel, zu dem ich keinen Zugang fand. Ich verlor immer gegen sie. Und es gehörte zu ihren unumstößlichen Erziehungsprinzipien, mich niemals absichtlich gewinnen zu lassen.
Normalerweise nutzte ich die Stunden, in denen meine Mutter beim Schach war, um mit Basti Musik zu hören oder mal in Ruhe fernzusehen, aber an diesem Tag gab es einen guten Grund, sie zu begleiten. Das Match fand im Gemeindezentrum eines Dorfes statt, in dem es ein Kino gab, das Filme ausschließlich im englischen Original zeigte. Meine Mutter liebte diesen Ort und da ich die Sprache weitaus besser verstand als Latein oder die positionellen Schwächen meiner Bauernstruktur , sahen wir uns manchmal gemeinsam einen Film an.
An diesem Samstag wurde „Stargate“ gespielt, der neue Film von Roland Emmerich. Meine Mutter machte sich nichts aus Science-Fiction, aber sie kannte die Schwester des Regisseurs von früher und sah sich deswegen alle seine Filme an.
Während meine Mutter verbissen damit beschäftigt war, die Tabellenführung der Universitätsmannschaft zu verteidigen, verlor ich zuerst drei Freundschaftspartien gegen einen Zwölfjährigen und dann die Lust am Spielen. Ich gratulierte artig, verließ das Gemeindezentrum und setzte mich auf eine Bank vor dem Haus ohne einen größeren Plan, was ich dort tun sollte. Ich hatte noch keine zwei Sekunden gesessen, da sprach mich jemand von der Seite an.
„Ach nee. Der Boltenhagen. Was machstn du hier? Bist du bei diesem Schachdings?“
Ich blickte auf und vor mir stand Simones Schwester Steffi. Natürlich rauchte sie. Natürlich war sie geschminkt als würde sie gleich auf eine Party gehen und natürlich hatte sie Simone im Schlepptau.
„Schachdings?“ wiederholte ich.
„Na da drin ist doch son Turnier, oder?“
„Ach so, ja.“ Ich spielte den Ahnungslosen. „Die spielen da drin Schach, ja. Aber ich bin ja hier draußen.“
„Stimmt“, grinste Steffi und zog an ihrer Zigarette. „Du bist hier draußen.“
Simone klappte das Buch zu, in dem sie gelesen hatte und kam zu uns rüber.
„Und was machst du dann hier?“
„Haste doch gehört.“ Steffi lachte. „Er ist hier draußen. Hat mit dem Schachturnier gar nix zu tun.“
„Wirklich“, beeilte ich mich zu erklären. „Ich… bin nur hier weil…wir gehen ins Kino.“
Steffi lachte laut auf. „Oh Kino. Wie cool. Na dann viel Spaß!“ Sie schnippte ihre Kippe auf den Boden, trat mit der Fußspitze drauf und ging in Richtung Straße davon. Simone blieb vor mir stehen.
„Ist heute wieder diese De Niro-Reihe?“
„Ääh…was?“
„Na die zeigen doch gerade ständig Filme mit Robert De Niro. Hier. Den hab ich letzte Woche gesehen.“
Sie hielt mir ihr Buch hin. Nicholas Pileggi. Der Mob von innen: ein Mafioso packt aus.
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