Das zu erkennen, hilft ungemein, das schier unaufhörliche automatische Denken zu stoppen. Was bleibt, wenn das Denken nicht ist oder nicht passiert? Nicht-Denken, Nicht-Verstand, stattdessen Momente gesteigerter Aufmerksamkeit unserer Präsenz, unserer Existenz, was Ruhe und Frieden mit sich bringt. Eins mit sich und der Existenz sein.
Dies bedeutet nicht, dass man sich von der Welt zurückzieht, sondern eben das Gegenteil: Dass man sich erst in diesem quasi meditativen oder selbstlosen Zustand der Welt annähern und, wenn es sein muss, seinen praktischen Verstand anwenden kann, um weltliche Probleme zu lösen – um danach den praktischen Verstand wieder abzulegen wie ein Werkzeug.
Ein aufmerksames fokussiertes Vorgehen, ohne dabei an seine eigenen sogenannten Sorgen zu denken, wird andernorts, nämlich in der Forschung, als Flow beschrieben. Obwohl es dort eigentlich um das Erkennen jener Aktivitäten geht, die man gerne tut und die einen die Zeit, das Selbst und die Sorgen vergessen lassen – lässt sich dies auch probeweise auf das Im-Jetzt-Sein anwenden.
(1) Ist die Aufgabe, nicht zu denken, schaffbar? Ja, indem man sie trainiert.
(2) Verlangt das Nicht-Denken eine gewisse Konzentrationsfähigkeit ab? Ja, und man kann sie sich ebenfalls antrainieren.
(3) Sind deutliche Ziele des Nicht-Denkens erkennbar? Na ja, nicht unnütz zu denken.
(4) Gibt diese Aufgabe unmittelbares Feedback? Ja, das Ausbleiben von Gedanken(schleifen) und das Einkehren von Frieden und Ruhe.
(5) Kann man sich der Aufgabe mühelos hingeben? Das passiert automatisch oder sollte sogar so passieren!
(6) Hat man ein Gefühl von Kontrolle? Ja, aber auch hier sind Übung und Gewöhnung gefragt.
(7) Verschwinden die Selbstsorgen? Oh ja, mehr denn je!
(8) Verändert sich der Zeitablauf? Ja – die psychologische Zeit verschwindet sogar.
Das muss nicht heißen, beim Essen eines Apfels selbigen plötzlich wie ein Wahnsinniger oder wie auf LSD in seiner Hand zu bewegen, als wäre er ein Globus. Aber sich auf den Geschmack zu konzentrieren, auf den Bissen im Mund und schließlich auf den Weg in den Magen – sich der Sache gewahr werden, dass man einen Apfel isst. Einen Apfel. Einen Apfel, Mensch! Gut, langsam gleiten wir in den Wahnsinn ab! Aber wenigstens ohne LSD.
So in etwa sollte es sich aber auch mit den Stimmen beziehungsweise Gedanken im Kopf verhalten: Man nimmt sie zur Kenntnis, begrüßt sie symbolisch mit einem »Oh, hallo, ihr auch wieder hier?« und fügt vielleicht noch hinzu: »Wollte gar nicht stören, wollte mir hier nur paar Werkzeuge mitnehmen!«
Und dann verschwindet man besten wieder, ohne sich auf das Gesäusel und die Stammtischdiskussionen einzulassen. Jedoch ist es wie mit einer Sucht: Dass man sich, um Sorgen oder Einsamkeit zu verdrängen, lieber mit diesen Stimmen auseinandersetzt und sich zugunsten ihrer Ausreden einfallen lässt, um den Stammtisch nicht verlassen zu müssen. »Ausdauer ist wichtiger als Wahrheit«, sagte der trinkende und sich herum prügelnde Henry Chinaski in Barfly zum Thema Alkohol. Im Grunde dasselbe in Grün. Denn: Das Gegenteil von Verbundenheit ist: Sucht.
Mir fällt eine Situation eines Bekannten ein, von der er erzählte. Eines Tages habe er mal in seinem Zimmer gesessen – und dann irgendwann gemerkt, dass er nichts mehr zum Denken hätte. Und deshalb hätte er vor Panik angefangen, einfach schnell hintereinander im Kopf 1, 2, 3 zu zählen – oder zu denken? Hauptsache, ich denke irgendetwas – bevor ich mich, da ja nichts denkend, in Luft auflösen könnte!
Dabei sind wir eben nicht unser Denken, sondern gehen buchstäblich zwangsweise mit unseren Erfahrungen um, sprich mit den persönlichen und kulturellen Konditionierungen, die das gesellschaftliche Leben eben mit sich bringen. Aus diesen Aspekten, und nicht zuletzt aus den Fremdbewertungen dieser Konditionierungen, bildet sich ein falsches Selbst heraus oder eine Art Kostüm, ohne dass wir eigentlich sein könnten beziehungsweise schon sind.
Doch statt einfach nackt zu sein und es als natürlich hinzunehmen, dass wir nackt sind, wollen wir am liebsten nicht mehr heraus aus dem Kostüm – nein, denn wir lieben den schweren Stoff, das Kratzen, den Gestank und das Preisschild, das wir nicht abmachen wollen, weil es doch bestimmt Eindruck macht! Und geteiltes Leid ist halbes Leid! Dabei ist es egal, ob die Stimmen von draußen kommen oder von drinnen. Hauptsache es wird bewertet, und Hauptsache, wir sind den Bewertungen schutzlos ausgeliefert. Denn die größte Angst besteht darin, gar nicht erst irgendwie bewertet zu werden, keine Schublade abzubekommen.
Wenn wir das Sein einfach in jedem einzelnen Moment wahr- und dankbar annähmen, würden wir auch keinen Gedanken an die Vergangenheit oder Zukunft verschwenden – wir befänden uns einfach im Flow. Stattdessen betrachten wir auch ganz praktische Probleme der Gegenwart durch die Linse der Vergangenheit oder stellen uns vor, wie dieser oder jener Ausgang der Situation sich auf unsere Zukunft auswirken könnte – also auf unser zukünftiges Ego. Soll heißen: Wir könnten eine Meinungsverschiedenheit oder bloße Unklarheit mit praktischem Verstand zugunsten aller Beteiligter lösen – aber greifen auf Erfahrungen aus der Vergangenheit zurück, die zwar nichts mit der aktuellen Situation zu tun haben, aber – auch weil das Gehirn eine faule Socke ist – bereits verwendete Verhaltensmuster parat halten, selbst wenn diese Muster nichts als Leid gebracht haben!
Das Ego hängt also auch stark mit unseren Gewohnheitsschleifen zusammen. Wir sind es gewohnt, unser Ego zu sein – deswegen bewegen sich mal so ganz unkonventionelle, sprich praktisch-rationale Herangehensweisen schon außerhalb unserer Komfortzone, die aber keine Komfortzone ist, keine sein kann , weil die Identifikation mit unserem Ego, also unseren Konditionierungen, Sklaverei bedeutet. Also merke: Die Gedanken (miss)brauchen Bewusstsein – aber das Bewusstsein braucht nicht unbedingt einen Gedanken.
Andernfalls verweilen wir in den alten Mustern, die daraus bestehen, uns mit anderen zu vergleichen, moralisch und teils widersprüchlich zu urteilen, selbst fundierte und sachlich geäußerte Kritik schlicht und ergreifend persönlich zu nehmen. Selbst in der Wissenschaft kommt es zur Kissenschlacht, wenn sich irgendwo ein kleines Ego befindet, das Theorien ins Rampenlicht drücken oder gar bewiesen haben möchte – egal, worüber sich das Ego definiert: Lebensstandard, Ansehen, Karriere. Es tut wirklich nichts Praktisches zur Sache.
Gesetzt der Fall, dass sich mit Denken, Fühlen und Handeln ziemlich gut erklären lässt, wie das Reaktionsmodell des Menschen funktioniert, bewirken bestimmte Gedanken beziehungsweise die Sorgen, die nicht abebben wollen, entsprechend Gefühle oder auch Emotionen, die sich im Körper bemerkbar machen. Oft sogar sind wir nicht mehr empfänglich für die Emotionen, weil wir abstumpfen, und finden uns nach Jahren des heraufbeschworenen, aber gleichzeitig heruntergeschluckten Kummers – willkommen zum Feld der Psychosomatik : – beispielsweise mit einem Herzleiden wieder.
Empfindungen wie zum Beispiel Ärger, der kraft der Gedankenschleifen unseres Egos oder unseres sogenannten Verstandes in unserer Seelensuppe köchelt, schwappen sogar nachweislich über: Ärger und Aggressionen ziehen Aggressionen anderer Menschen an und erzeugen – et voilà, noch mehr Aggressionen. Deshalb ist es auch wichtig, körperliche Empfindungen und Auffälligkeiten zum Anlass zu nehmen, zu fragen, wie das eigene Denken, die eigene Einstellung zur Welt, zu dieser (schlechten) Körperbalance geführt haben könnten.
Apropos Körperbalance: Heute ist der erste Tag ohne Koffein. Und dieses Mal gehe ich die Sache mit einer anderen Theorie an. Beim letzten Mal hatte ich wieder angefangen, Kaffee zu trinken, weil ich dachte, ich müsste ein Ungleichgewicht in meinem Körper ausgleichen, sprich ich dass ich vielleicht organisch bedingte leichte Depressionen hätte. Mithilfe von Kaffee als anerkanntes Antidepressivum, da durch seinen Konsum Adrenalin und Dopamin ausgeschüttet werden, wollte ich einem Mangel entgegenkommen. Vielleicht aber dem falschen!
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