Hans Fallada - Wir hatten mal ein Kind
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Seit Generationen wissen die Leute auf der Insel Rügen, dass mit den Gäntschows nicht gut Kirschen essen ist. Auch Johannes, der letzte Spross dieser Sippe, macht keine Ausnahme. Nur Christiane, seine große Liebe seit Kindheitstagen, hält zu ihm. Nur Christiane, seine große Liebe seit Kindheitstagen, hält zu ihm.
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Der erste, der den kriegerischen Geist der Inselbewohner zu spüren bekam, war ein junger, nicht sehr heller Häuslerbengel aus Schaprode, den der Briefträger, dem längst das Gezeter der Inselbewohnerinnen über geworden war, mit der Besorgung eines Briefes betraut hatte. Kaum war sein Boot im seichten Inselwasser aufgelaufen, so sah er zu seinem Schrecken hinter einem Kiefernbusch ein altes wüstes Weib mit wilden weißen Haarzotteln im spitzen Gesicht hervorstürzen, eine Büchse schwingend und dabei wilde Schreie wie ein Raubvogel ausstoßend. Ehe er sich noch besonnen hatte, fühlte er den Flintenlauf auf der Brust, und eine fast geisterhafte Stimme befahl ihm, sich von hinnen zu machen und nie wieder diesen Strand zu betreten.
Da der Bengel nicht eben zu den Mutigsten gehörte, so stieß er sein Boot mit solcher Gewalt vom Ufer ab, daß er beinahe mit einem einzigen Stoß das bergende heimische Schaproder Ufer erreichte. Um aber seine Niederlage vor einem alten Weibe dem Dorfgespött zu verheimlichen, machte er aus seiner Flucht ohne Gegenwehr einen wilden Kampf, bei dem ihm die Schrote nur so um die Ohren gepfiffen seien.
In Schaprode kam man zu der Ansicht, daß die alten Hühner da drüben vollkommen verdreht geworden seien, und sandte den unbestellbaren Brief mit einem kurzen, aber inhaltvollen Bericht des Gemeindevorstehers an das Kloster zur heiligen Anna in Stralsund zurück.
Aber ehe hierauf noch etwas erfolgte, hatte der Gerichtsbote Eleazar Zörrgiebel eine Zustellung bei den beiden Fräulein Nipperwiese anzubringen. Ganz ungewarnt nahte sich dieser gute, etwas behäbige Mann, mit seinem Boot von Udars kommend, dem Gestade der Oie, wo er auch noch das Unglück hatte, grade zur Ablösung der Wache zurecht zu kommen. Er sah sich also nicht einer, sondern beiden Nipperwiese gegenüber, dazu einem drohenden Schießeisen und einer an einem Strick wild daher stürmenden Kuh. Denn die beiden Mädchen hatten sofort das verhaßte Mützenrot erspäht und waren, ohne alle theoretischen Kenntnisse in der Strategie, zum Überrumpelungsangriff übergegangen.
Ehe der gute Mann noch wußte, was eigentlich los war, hatte er drei oder vier kräftige Steine in Boot, Brust und Weiche, eine wild brüllende Kuh hatte versucht, mit ihren Vorderbeinen zu ihm in den Kahn zu klettern, was einem Schiffbruch mit schmählichem Ersaufen gleich gekommen wäre, und eine nicht weniger wild schreiende zweite Alte hatte ihm den Schießprügel vor den Brustkasten gestoßen, daß er von der Bank auf den Bootsboden sank.
Als er ächzend, an vielen Stellen blutrünstig und blau, wieder zu sich gekommen war, trieb er weit draußen auf dem Schaproder Bodden, und die schreckliche Oie lag nur noch fahl zusammengekrochen wie ein Untier am helleren Horizont.
Dieser Bericht wurde zu Stralsund mündlich erstattet, und mit so viel Zorn und ehrlicher Entrüstung, wie sie ein sonst nicht mehr leicht zu kränkendes Gerichtsbotenherz nur aufzubringen vermag. Die Folge war, daß schon nach einer Woche ein schwerbewaffneter Gendarm, von einem Hund groß wie ein Bullenkalb begleitet, nach der Schaproder Oie abgeordnet wurde.
Dort war die kriegerische Stimmung infolge der gewonnenen Schlachten bis zur Siedehitze gestiegen, und die beiden alten Fräuleins hatten beschlossen, fürder nicht einen Menschen mehr, er möge wollen, was er wolle, den heiligen Strand ihres Eigentums betreten zu lassen. Leider mußte aber trotzdem der Wachtdienst für eine Weile unterbrochen werden, denn Fräulein Elfriede, die beim Abstoßen des feindlichen Bootes unversehens in tiefes Wasser geraten war, wurde von einem besonders schweren und schmerzhaften Anfall ihres Rheumatismus heimgesucht. Einige Linderung gewährten ihr – neben der Freude über den errungenen Sieg – warme Moorschlammwickel, aufgelegt durch ihre Schwester Frieda.
Als der Mißgeschicke bösestes mußte grade in das Auflegen eines solchen heißen Moorwickels der Landgendarm mit seinem Hund hineingeraten. Er war in den Stall eingetreten, ehe sie es sich versahen. Die Kranke stieß einen wilden Schrei aus, halb aus Schmerz, denn sie hatte sich ungeachtet ihres Leidens aus dem Bett auf den Eindringling stürzen wollen, viertel aus Scham, da sie wegen des Wickels entblößt war, viertel aus Kampfeslust. Die andere Schwester war wild auf die Büchse, Kranke und Wickel vergessend, zugeschossen, der Landgendarm sagte höflich guten Tag, der Bullenkalbhund bellte wild die Kuh an, die ihm das Horn zuneigte, der Stall war von einem Wirrwarr von Geräuschen erfüllt. Da hatte schon der Mann das gefährliche Schießgewehr dem schwachen weiblichen Arm entwunden, hatte aber auch auf den ersten Blick gesehen, was von den Fabelmärchen von spritzenden Schroten und knallenden Schüssen zu halten war. Aus dieser Büchse war seit einem Vierteljahrhundert kein Schuß abgegeben worden, und sollte so etwas je versucht werden, würde der Schütze jedenfalls nicht mit dem Leben davonkommen.
Und während der besonnene Mann den Hund zur Ruhe brachte, die Kuh aus dem Hause trieb, dabei sein Gesicht gegen die Nägelangriffe des alten Fräuleins verteidigte, fand er sogar noch die Zeit, eine Art Vernehmung anzustellen, bei der ihm die Größe der Verwirrung, der Armut und des Jammers, die in diesem alten Kuhstall untergekrochen waren, so recht klar wurde.
Der Landgendarm muß nicht nur ein sehr besonnener, sondern auch ein sehr rechtlicher Mann gewesen sein, mit einem Gefühl für die Kreatur, denn auf seine Schilderung hin wurde der unsinnige Prozeß um ein wüstes Stück Land abgebrochen (die verdrehten Olschen werden ja doch bald sterben, und ohne Erben sind sie auch), ja, die Bevölkerung der Umgegend wurde ausdrücklich verwarnt, den Boden der Schaproder Oie zu betreten. Diese weisen Entschließungen hatten nur den einen Fehler: sie wurden den am tiefsten Betroffenen nicht mitgeteilt.
Nach der Gesundung von Elfriede setzten die beiden ihren aufreibenden Wachtdienst fort, wobei sie jetzt statt des konfiszierten Schießgewehrs die viel gefährlichere Mistforke mit sich führten. Und wenn sich auch Jahr für Jahr kein Feind mehr sehen ließ, das durch so viel bittere Erfahrungen entstandene Mißtrauen ließ sich nicht wieder einschläfern. Diese Stille war das Allerverdächtigste und verbarg nur schlimmste Pläne einer feindlichen Welt.
So beschaffen waren nun die Bewohner des Strandes, auf den Malte Gäntschow ahnungslos in sinkender Nacht sein Boot auflaufen ließ. Der junge Bauer tastete sich im Sternenlicht mühsam etwas entlang, von dem seine Füße glaubten, es sei ein Pfad. Die Zweige der niedrigen Kiefern schlugen gegen ihn und wuschen Gesicht und Düffeljacke mit reichlichem Tau. Als er noch auf See in Nähe des Strandes gewesen war, hatte er ein spärliches rotes Licht in der Schwärze zu sehen gemeint. Jetzt aber war es fort, nichts war um ihn als tiefste Nacht. Die Sterne flimmerten, es würde eine kalte Nacht geben, an Draußen-Schlafen war nicht zu denken.
Verbissen drängte er sich durch das widerspenstige Buschholz, er meinte, es sei hier wie auf Fiddichow, wo fast die ganze Küste von einem schmalen Streif Kiefern gesäumt ist, der das Verwehen des Dünensandes auf die Felder hindern soll. Nach einer Weile hatte er aber jeden Pfad und jede Richtung verloren, er stand keuchend da, dann warf er sich wieder mit aller Wucht ins Gehölz. Die dürren Äste brachen krachend ab, um ihn wurden die Waldgeräusche laut: ein auffahrender Vogel, irgendein Huschen am Boden. Als er einen Augenblick still stand, hörte er deutlich das warnende Klopfsignal eines Karnickelrammlers in seinem Bau. Dann meinte er, es vor sich etwas heller werden zu sehen. Mit einem Schwung warf er sich durch die letzten Stangen – und stand wieder an der See, die leise plätschernd auflief.
Er fluchte laut. Dann beschloß er, am Strand entlang bis zu seinem Boot zu gehen, machte drei Schritte und blieb wieder stehen: in welcher Richtung sollte er denn nun eigentlich das Boot suchen? Sein Ortssinn wollte ihm einreden, das Boot müsse in seinem Rücken liegen, aber das war ja unmöglich, konnte vorn und hinten die See sein? Ja, vielleicht, wenn er auf einer schmalen Landzunge war.
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