»Kasota, wo bleibst du denn?«, rief ihre Mutter ihr entgegen.
»Ich bin doch schon da!«
»Wo treibst du dich denn den ganzen Tag herum?«, fragte Yepa. Onur sah zu seiner Tochter, die den Berg hochkam.
»Woher wird sie schon kommen, vom Flussufer oder?«
»Meine Güte, irgendwann wird noch ein Unglück geschehen. Kind, ich möchte nicht, dass du dich andauernd am Ufer herumtreibst.«
»Was soll denn schon passieren, Mutter? Ich gehe doch nicht in den Fluss hinein, sondern war nur auf dem Steg.«
»Kasota, du weißt, dass du nicht bis zum Aufsteigen des Nebels am Fluss bleiben sollst. Der Nebel könnte Gefahren mit sich bringen, denk an die Flussungeheuer, welche im dichten Nebel nicht zu sehen sind.«
»Ja Vater, aber es ist so schön, wenn am anderen Ufer der Tag anbricht. Warum können wir nicht hinüber?«
»Kasota, wie oft soll ich dir noch sagen, dass es keine Möglichkeit gibt und außerdem, sind wir für sie ein fremdes Volk und wahrscheinlich auch nicht willkommen. Vielleicht würden sie uns sogar angreifen. Jetzt komm herein, damit wir Essen und uns anschließend zur Ruhe begeben können.«
Ihre Tochter wusste seit ein paar Jahren, dass sie in Sonnland geboren wurde. Nachdem sie ihren Vater gefragt hatte, warum nur sie blondes Haar hatte. Wenn der Mond in voller Blüte stand, glänzte ihr Haar wie Gold. Ihr Vater wusste, dass es jetzt an der Zeit war, seine Tochter aufzuklären. Seither wusste Kasota, dass in Sonnland auch Menschen lebten. Der Drang einmal dorthin zu kommen, wuchs immer mehr.
Kasota lag auf ihrem Strohlager, zugedeckt mit einer Wolldecke aus Schafwolle und sah zu der Kerze, welche neben ihr auf einem Steinteller auf dem felsigen Boden stand.
»Morgen werde ich zu Dorian gehen und mit ihm reden, vielleicht weiß er einen Ausweg«, murmelte sie vor sich hin und löschte das Licht.
Dorian war der Sohn von Can einem der Dorfältesten und nur etwas älter als sie selbst. Dorian war ihr Freund, die anderen vier Jugendlichen waren bereits um einige Jahre älter und hatten andere Interessen als sie.
Ansonsten gab es nur noch vier Kleinkinder, zum Teil lagen sie noch in den aus Holz gezimmerten Wiegen, in der schon viele Generationen lagen. In Sternland durften nur bis zu zehn Kinder und Jugendliche leben. Wenn die Jugendlichen zu jungen Erwachsenen herangewachsen waren und in der Lage, das Volk mit ihrer Arbeit zu unterstützen, durften wieder Kinder gezeugt werden. Es herrschten strenge Richtlinien, welche auch strikt eingehalten wurden, schließlich hing davon die Chance jeden Einzelnen zum Überleben ab. In Gedanken an Sonnland und an Dorian schlief sie ein.
Bereits in den frühen Morgenstunden wurde Kasota wach. Aus dem Nebenraum hörte sie schon ihre Mutter arbeiten und das Knistern des Feuers, das jeden Morgen als Erstes entfacht wurde. Kasota sah auf das Strohlager ihrer Eltern, ihr Vater war auch schon aufgestanden. Sicherlich war er mit drei anderen Fischern schon am Fluss um Fische zu fangen. Der Duft von Kräutertee zog zu ihr ins Schlaflager. Gleich würde ihre Mutter nach ihr rufen.
»Kasota, mein Kind aufstehen, der Tag bricht gleich an!«
»Ja Mutter, ich komme gleich!«
»Ist gut Kind, vergiss dich aber nicht zu waschen!« Kasota verdrehte die Augen. »Natürlich nicht, ich wasche mich immer!«
»Das ist gut. Dann ist wenigstens etwas von unserer Erziehung hängen geblieben«, sagte Yepa und schmunzelte dabei.
Kasota ging im Nachthemd zum Küchendurchgang. Sie stemmte ihre Arme in die Seiten und sah zu ihrer Mutter.
»Was willst du damit sagen?«
»Dass du zu einer sehr eigenständigen jungen Frau geworden bist, die sich nicht immer an das hält, was man ihr sagt.«
»Das stimmt überhaupt nicht!«, prustete sich Kasota auf.
»Oh, doch meine Tochter. Zum Beispiel habe ich dir immer wieder gesagt, dass du nicht allein zum Flussufer gehen sollst?«
»Ja, das stimmt, aber «
»Halte jetzt keine Rede, denn ich könnte dir einiges darüber erzählen. Mach dich jetzt fertig, damit wir mit dem Frühstück fertig werden. Ich muss mit der Zubereitung des Mittagessens, für die Dorfältesten beginnen.«
Kasota verschwand hinter einer schmalen Holztür, welche vom Wohnraum in den Schlafraum führte.
Ihre Mutter deckte inzwischen den massiven Holztisch, um den sechs ebenso massive Holzstühle standen. Alles im Haus stammte aus Familien von Generationen vor ihnen. So wie es im ganzen Dorf üblich war und jede Generation es hegte und pflegte.
Yepa und ihre Tochter Kasota ließen sich das Frühstück munden, es gab frisches Fladenbrot und Kräutertee.
»Was wirst du heute machen, mein Kind?« Kasota zuckte mit den Schultern.
»Ich werde zu Dorian gehen.«
»Dorian hat deinen Vater abgeholt, sie sind beide zum Fischen gegangen. Du wirst mir beim Zubereiten der Speisen zur Hand gehen müssen. Nachdem ich heute für die Dorfältesten kochen muss, könntest du inzwischen unser Mittagsmahl zubereiten.«
»Ich kann nicht kochen.«
»Dann wirst du es lernen und du fängst heute damit an. Schließlich wirst du irgendwann Dorian ehelichen und ein Kind bekommen. Dann musst du für deinen Mann, seinen Vater und später auch für dein Kind kochen können.«
»Das liegt noch in weiter Ferne, jetzt habe ich noch keine Lust Dorian zu ehelichen und für ihn und Can den Haushalt zu führen.«
»Das mag schon sein, doch Übung und Fingerspitzengefühl, für manche Dinge im Haushalt, kommen nicht über Nacht. Kasota, heute wirst du damit anfangen.«
Ihre Mutter legte ihr die vorbereiteten Lebensmittel auf den Tisch und forderte sie mit einem Nicken dazu auf, endlich anzufangen.
Kasota betrachtete die Kartoffeln und das Gemüse.
»Wo kommt das her?«
»Das hat dein Vater gebracht.«
»Das weiß ich auch, aber woher hat es Vater?«
Yepa sah ihre Tochter an. »Das mein liebes Kind, geht uns Frauen nichts an. Es ist da und wir sind unseren Männern dafür dankbar.«
Vorwurfsvoll sah Kasota ihre Mutter an. »Hast du Vater nie danach gefragt? Ihre Mutter schüttelte den Kopf.
»Weiß es Dorian auch?« Ihre Mutter zuckte mit den Schultern.
»Ich weiß es nicht. Ich denke aber, falls er es weiß, wird er es niemanden sagen. Das bleibt Männergeheimnis.«
»Das bekomme ich schon heraus«, gab Kasota trotzig von sich.
»Das wirst du schön bleiben lassen, sonst bringst du Dorian womöglich noch in Schwierigkeiten und jetzt fang endlich damit an, die Kartoffeln dünn zu schälen.«
Kasota wusste, dass das letzte Wort darüber noch lange nicht gesprochen wurde. Sie war sich sicher, sollte Dorian darüber Bescheid wissen, würde sie es schon herausbekommen.
Fleißig schälte sie die Kartoffeln und putzte das Gemüse, sie schnippelte alles klein her und gab es in den großen Topf. Sie füllte den Topf mit Wasser und gab Salz und frische Kräuter dazu. Sie setzte den Deckel darauf und stellte ihn über die Herdflamme.
»Fertig, kann ich jetzt gehen?«
»Ja, ich danke dir, es kocht jetzt von alleine, du kannst jetzt gehen. Wohin willst du?«
»Keine Ahnung, ich gehe einfach einmal darauf los. Vielleicht schaue ich zum Fluss und beobachte die Fischer.«
»Mach das, aber pass auf dich auf und gehe denn Männern nicht im Weg um.«
»Mach ich, außerdem gehe ich nicht ins Wasser, sondern schaue vom Ufer aus zu.«
Kasota verließ das Haus und blieb auf dem Felsvorsprung stehen. Sie sah in die Weite und zum Fluss hinunter. In der Ferne am Ostufer war es inzwischen genauso dunkel wie bei ihnen. Sie sah zum Himmel hoch, der Mond war bereits zur Hälfte sichtbar und erhellte schemenhaft die Umgebung. Bald würde es Mittag sein und der Mond würde das Land erhellen und ihr Haar goldgelb glänzen lassen. Langsam setzte sie sich in Bewegung und ging bergabwärts zu den Fischern am Fluss.
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