Die drei jungen Männer füllten den Sack voll Lebensmittel und dankten Raik dafür.
»Wir würden dir gerne etwas geben, aber wir haben nichts.«
»Lasst es gut sein, bringt mir einfach beim nächsten Mal diese Blätter mit. Schaut, so sehen sie aus.«
Er hielt ihnen Blätter entgegen und reichte ihnen einen großen Leinenbeutel. Diese Pflanze wächst hinter eurem Bergkamm in der Steppe. Sie ist etwa fünf Fuß hoch und ihre Blüte erinnert an eine Kerze.
»Füllt mir immer diesen Beutel damit. Wenn ihr mir jedes Mal einen vollen Beutel mitbringt, dann ist das genug. Beim nächsten Mal kann ich euch auch Fleisch mitgeben, ich schlachte ein Schwein. Euer Wild könnt ihr dann etwas aufsparen. Ich kann euch auch immer von meinen geschossenen Wildtieren etwas abgeben. Das nächste Mal könnt ihr drei Säcke mit Lebensmittel bekommen, ihr müsst mir nur die leeren Säcke wieder mitbringen.«
»Das machen wir. Raik entschuldige, wer hilft uns, wenn du einmal nicht mehr unter den Lebenden weilst?« Raik klopfte dem jungen Mann auf die Schulter, »keine Angst, ich habe drei Söhne, sie alle kennen den Tunnel und ich werde sie noch heute, über euch und unsere Abmachung in Kenntnis setzen. Sie stehen mir beim Jagen zur Seite und sind Bauern wie ich. Es wird eine Abmachung über Generationen sein, vorausgesetzt sie bleibt geheim und es weiß nur ein kleiner Kreis davon.«
»Vielen Dank für alles, Raik du kannst dich auf uns verlassen.«
Raik schob einen Heuballen zur Seite und öffnete eine Bodenluke, unter der eine Holztreppe in die Tiefe führte.
»In fünf Tagen wird sie für euch geöffnet sein, ihr braucht sie nur anzuheben. Wir sind nicht immer daheim, aber es befindet sich alles hier in der Scheune und ihr könnt euch daran bedienen. Der Tunnel führt direkt hinter euren Felsenkamm und sein Ausgang befindet sich in einer Höhle.«
Raik reichte jeden von ihnen eine brennende Kerze und Zündhölzer.
»Die braucht ihr, legt sie euch nach Gebrauch immer am Tunnelende bereit. Auch die Kerzen und das Feuer lege ich hier für euch hin, wenn ihr Nachschub benötigt.«
»Vielen Raik, wir stehen auf ewig in deiner Schuld. Vielleicht können wir dir in der Zukunft, alles in irgendeiner Weise wieder zurückgeben.«
»Ich helfe gerne und jetzt geht, ich brauche noch etwas Schlaf, wir müssen heute noch auf unsere Felder. Passt auf euch auf!«
Die jungen Männer stiegen die Stufen in die Tiefe hinunter und gingen mit einem Sack voll Lebensmittel durch den Tunnel. Als sie am Ende des Tunnels ankamen, hatten sie einen Fußweg von fast einer Stunde hinter sich.
Von jetzt an hatten sie einen regelmäßigen Kontakt mit Raik und seinen Söhnen.
Zwei Jahre später erwartete Fürst Abner's Frau Ava in Sonnland, ihr erstes Kind.
Abner's Wunsch nach einem männlichen Nachfolger für sein Land, konnte sie ihm jedoch nicht erfüllen. Ava bekam ein Mädchen, Abner's heimliche Geliebte Leda, gebar jedoch am selben Tag seinen Sohn.
Das erstgeborene Kind war in der Regel sein Nachfolger und er wollte sein Reich, keinesfalls einem schwachen Mädchen überlassen, sondern einem kräftigen Sohn.
Kurz entschlossen entschied er, dass das Mädchen von Raik dem Förster und zugleich Großbauer, getötet werden sollte.
Leda's Sohn hingegen musste seine Frau als ihr Kind akzeptieren und an ihrer Brust stillen.
Damit die Geheimhaltung sicher war, tötete Abner persönlich, seine Geliebte Leda.
Raik nahm das Kind entgegen, brachte den Säugling allerdings im Tunnel unter dem Fluss zur andern Flussseite und stellte den Korb, indem der Säugling lag, am Ufer ab.
»Keine Angst kleines Mädchen, bald wirst du gefunden werden und sicherlich wird man hier mehr Herz für dich haben, als dein Vater, der Fürst.« Er strich dem Säugling sanft über den Kopf, befeuchtete den Korb etwas an, so als würde er angespült worden sein und ging zurück zum Tunnel.
Raik wusste, dass dort das Kind schnell gefunden würde. Schließlich würden morgens die Fischer zum Fluss kommen und jetzt war Morgen. Er warf einen letzten Blick zum Kind zurück und in die Richtung, von wo die Fischer kämen. Zufrieden stellte er fest, dass bereits zwei Männer den Bergweg verlassen hatten und zum Ufer gingen.
Raik beeilte sich schnell in die Höhle zu kommen, um ungesehen den Rückweg im Tunnel anzutreten.
Jahre später:Es war wie immer, ein klarer Vollmondtag. Schwarz war der Himmel und die Sterne am Himmel breiteten sich wie eine Decke über dem Fluss und dem Sternland aus. Der Helligkeit spendende Vollmond war bereits nur noch als schmale Sichel zu sehen, es wurde Abend und sein Volk begab sich langsam zur Ruhe.
Nachts wurde es kalt, nur die Sterne waren am Himmel zu sehen. Der nächtliche Wind brachte die Kälte mit einer dichten Nebelsuppe über dem Fluss und trieb die Steppenhexen vor sich her.
Steppenhexen waren ausgetrocknete grasähnliche Pflanzen, welche der Wind bereits zu großen Kugeln geformt hatte und mit ihnen sein tägliches Spiel machte.
Auf Sternland gab es keine Vegetation mehr, nur verdorrte knorrige Bäume. Alle Bewohner hatten eine blasse Hautfarbe, ihnen fehlte das Licht der Sonne. Sie hatten graue Haare und waren mit dunkler Kleidung bekleidet, bis ein paar wenige, die weiße Kleidung trugen, das waren die Dorfältesten.
Die Sternländer waren ein fleißiges und stilles Volk. Sie wohnten hoch oben in den Felsen, dort waren sie auch vor den Kreaturen des Wassers geschützt, welche nachts mit dem Nebel ans Ufer kamen und erst im Morgengrauen mit dem Nebel wieder verschwanden, wenn am Ostufer des Flusses in Sonnland, die Abenddämmerung begann.
Das Sonnland auf der gegenüberliegenden Seite am Ostufer vom Fluss war hingegen ein Pflanzenreiches Land. Ihr Himmel am Tag strahlte in einer herrlichen blauen Farbe und die Sonne erwärmte tagsüber das Land. So bunt wie das Land, so bunt war auch ihr Volk. Ihre Körper waren von der Sonne gebräunt und ihre Haare glänzten in goldenem Glanz. So bunt wie sie selbst waren auch ihre Kleider und ihre Häuser. Sie waren ein lautes und lustiges Volk, nicht so still wie das Sternvolk.
Brach im Osten der Tag an, wurde im Westen Nacht, der Licht spendende Mond verschwand langsam und die Sterne regierten. Wurde es im Osten Nacht, ging der Mond als zunehmende Sichel im Westen auf und der Tag brach an. Diese Gehzeiten wiederholten sich bereits seit vielen Jahren. Die Sonnländer dachten nicht einmal mehr an die Existenz der Sternländer. Im Gegenzug, dachten die Sternländer aber sehr wohl an sie, denn Kasota, wie sie den damals ausgesetzten Säugling nannten, den Onur und zwei weitere Fischer gefunden hatten, war der lebende Beweis der Sonnländer.
Das Mädchen Kasota war ein ganz besonderes Mädchen. Sie war lebhaft und wissbegierig, außerdem unterschied sie sich im Aussehen von den Anderen. Inzwischen zu einer hübschen jungen Frau mit blonden langen Haaren geworden, stand sie auf einem kurzen Steg, der in den Fluss hinein führte. Jeden Tag stand sie dort und sah hinüber ans weit entfernte Ufer, mit den schemenhaften Bergen, wo der Tag anbrach, während über ihr und dem Fluss, der schwarze Sternenhimmel lag.
Voller Sehnsucht sah sie hinüber. Einmal wollte sie auch einen hellen Tag erleben, mit blauem Himmel und einer Sicht bis in die Unendlichkeit. Erst als gleißendes Licht auf der anderen Seite des Ufers und der damit verbundenen Wärme, sich dichte Nebelschwaden auf dem Fluss bildeten und die Sicht trübte, ging sie heim.
Sie ging erhobenen Hauptes den steinigen Weg aufwärts.
Kasota erreichte die Häuser, welche tief in die Felsen gebaut waren. Das Haus ihrer Eltern lag hoch über den anderen in Fels gemeißelten Häusern. Ihr Vater Onur und ihre Mutter Yepa warteten bereits vor ihrem Haus auf einem Felsvorsprung auf ihre Tochter.
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