Allerdings ist die Liebe ein Vergehen; aber Fantine besaß noch eine Unschuld nach ihrem Fehltritt.
IV. Tholomyés singt vor Freude ein spanisches Lied
Der ganze Tag, war von Anfang bis zu Ende fröhlich wie eine schöne Morgenröthe. Die ganze Natur schien ein Festgewand angelegt zu haben. Die Beete in Saint-Cloud athmeten süße Wohlgerüche aus; von der Seine stieg ein kühler Hauch empor; die Zweige gestikulierten im Winde; die Bienen plünderten die Jasminblüthen; das Bummlervölkchen der Schmetterlinge ließ sich auf die Schafgarbe, den Klee und den Taubhafer nieder, und in dem majestätischen Park des Königs von Frankreich trieb sich ein Haufe Vagabunden herum, die Vögel.
Unsere vier Paare freuten sich mit unermeßlichem Behagen des Sonnenscheins, des lieblichen Anblicks der Felder, Blumen und Bäume.
Und Angesichts des paradiesischen Kommunismus, den sie überall in der Natur sahen, konnten auch die Schönen nicht so grausam sein, nur das strenge Recht walten zu lassen und zwischen ihren Liebhabern und deren Freunden einen genauen Unterschied zu machen. Sie ließen sich Alle von Allen küssen, ausgenommen Fantine, die wahrhaft liebte und sich spröde verhielt. Ihr sinniges Wesen verdroß Favourite: »Du siehst immer absonderlich aus!« spöttelte sie.
Nach dem Frühstück sahen sich die vier Paare eine vor kürzer Zeit aus Indien bezogne Pflanze an, die zu jener Zeit ganze Schaaren von Parisern nach Saint-Cloud zog, ein sonderbares und reizendes Bäumchen, dessen unzählige und verworrene, überaus feine blätterlose Aestchen mit tausenden von weißen Röschen bedeckt waren.
Nach pflichtschuldiger Bewunderung des allerliebsten Gewächses riet Tholomyés: »Wie wär's Kinder, wenn wir uns einen Eselritt genehmigten? Ich poniere.« Sie mietheten also einen Eseltreiber und kehren über Vanves und Issy zurück. In letzterem Ort schaukelten die Herren mit starken Armen ihre Schönen in dem großen Netz, das zwischen den zwei, von dem Abt de Bernis besungenen Kastanienbäumen ausgespannt ist. Während die Kleider malerisch im Winde flogen, sang Tholomyès, der als Toulousaner – Toulouse ist mit Tolosa verwandt – sich spanisch aufgelegt fühlte, ein zur Situation passendes spanisches Lied:
Soy de Badajoz.
Amor me blama
Coda mi alma
Es en mis ojos
Ovequé ensennas
A' tus piernos
Nur Fantine wollte sich nicht schaukeln lassen, und wieder zankte Favourite: »Was das für eine Ziererei ist!«
Nach dem Ritt abermals ein großartiges Amüsement: Eine Kahnfahrt auf der Seine. Dann ging es zu Fuß von Passy nach der Barriere de l'Etoile. Trotzdem sie seit fünf Uhr Morgens auf den Beinen waren, begann hier das Vergnügen noch einmal. »Sonntag giebt's keine Müdigkeit!« predigte Favourite, und um drei Uhr saßen die vier Paare in einem Wagen der Rutschbahn, die damals auf dem Hügel Beaujon stand, und deren Schlangenlinie die Bäume der Champs-Elysées überragte.
Trotz alledem fand Favourite, daß man nie glücklich genug sein kann. »Wie steht's mit der Ueberraschung?« forschte sie von Zeit zu Zeit. »Geduld!« antwortete Tholomyès.
Nachdem sie die Rutschbahn gründlich ausgekostet, stellte sich endlich Müdigkeit und Hunger ein und so fielen sie bei Bombarda hinein, dem berühmten Restaurateur in den Champs-Elysées, der auch in der Rue de Rivoli ein Lokal hatte.
Ein großes, aber häßliches Zimmer mit Alkoven und Bett im Hintergrunde (denn da das Restaurant überfüllt war, stand kein anderer Raum zur Verfügung); zwei Fenster, von denen aus man durch die Ulmen eine Aussicht auf den Fluß und das Ufer hatte; eine herrliche Augustsonne, deren Strahlen das Zimmer überflutheten; zwei Tische, auf dem einen ein stolzer Berg von Blumensträußen, Mannes- und Frauenhüten, auf dem andern ein lustiger Wirrwarr von Schüsseln, Tellern, Gläsern und Flaschen; wenig Ordnung auf diesem Tisch und einige Unordnung darunter: Dies war das Stadium, wo gegen halb fünf des Nachmittags unsere um fünf Uhr Morgens begonnene Idylle angelangt war. – Die Sonne neigte sich allmählig ihrem Untergange zu, und ebenso endlich auch der Appetit unserer jungen Freunde.
Die Champs-Elysées, vom Sonnenschein und von Menschenmengen durchwogt, waren voller Licht und Staub, der beiden Elemente des Ruhmes. Die marmornen Pferdestatuen von Marly, die zu wiehern scheinen, prangten in goldigem Glanze. Equipagen fuhren hin und her. Eine Schwadron prächtiger Gardes du Corps, mit den Hornisten voran ritt die Avenue de Neuilly herunter; auf der Kuppel der Tuilerien wehte, von der niedergehenden Sonne rosig gefärbt, die weiße Fahne. Die Place de la Concorde, die damals ihren alten Namen die Place Louis XV. wieder angenommen hatte, war mit frohen Spaziergängern überfüllt. Viele von ihnen trugen die silberne Lilie an dem moirierten weißen Bande, das 1817 noch nicht ganz aus den Knopflöchern verschwunden war. Mitten unter dem Publikum, das ihnen fleißig applaudirte, sah man kleine Mädchen, welche, die Hände zum Reigen verschlungen, ein damals beliebtes, zur Niederschmetterung der Anhänger Napoleons bestimmtes Lied sangen. »Gebt uns unsern Vater wieder!« lautete der Refrain.
Leute aus den Arbeitervierteln, von denen manche nach dem Beispiel des feineren Publikums das Abzeichen der Bourbonen, die Lilien, trugen, hatten sich gleichfalls hier eingefunden; sie ritten Karussel und stachen nach den Ringen; andere saßen vor den Schänken und zechten; manche – es waren Druckerlehrlinge – stolzierten mit Papiermützen auf dem Kopfe einher und waren seelensvergnügt. Alles athmete Frohsinn. Es war eine friedfertige Zeit, wo die Bourbonen sich in Sicherheit wiegen konnten, wo ein spezieller Bericht des Polizeipräfekten Anglès an den König über die Bevölkerung der Vorstädte mit folgenden Zeilen schl0ß: »Alles wohl erwogen, Majestät, ist von diesen Leuten nichts zu befürchten. Sie sind sorglos und indolent wie Katzen. Das gemeine Volk in den Provinzen ist unruhig, die Pariser nicht. Es sind alles Leute von kleiner Statur. Zwei von ihnen, auf einander gestellt, gehören dazu, um die Länge eines Grenadiers zu erreichen. Denn merkwürdiger Weise hat die Natur des pariser Volks seit einem halben Jahrhundert abgenommen. Kurz, die Pariser der Vorstädte sind ungefährliche, gute Kanaillen.«
Daß eine Katze zu einem Löwen werden kann, halten Polizeipräfekten nicht für möglich; das Volk von Paris hat aber dieses Wunder fertig gebracht. Uebrigens hatten auch die Republiken des Alterthums eine höhere Meinung von der Katze, als der Präfekt Anglès; sie war bei ihnen das Sinnbild der Freiheit und die Korinther ließen, gleichsam der ungeflügelten Minerva des Piraceus zum Trotze, auf ihrem Versammlungsplatze die kolossale broncene Statue einer Katze errichten. Von dem Pariser Volke hatte auch die naive Polizei der Restauration eine »zu vortheilhafte« Meinung. So gut, wie man gewöhnlich annimmt, ist diese Kanaille keineswegs. Der Pariser ist unter den Franzosen, was einst der Athener unter den andern Griechen war. Keiner kann träger und leichtsinniger sein. Keiner vergißt so leicht wie er; aber man lasse sich dadurch nicht täuschen; winkt ihm der Ruhm, so ist er der wildesten Energie fähig. Man gebe ihm eine Pieke, so stürmt er die Tuilerieen und stürzt das Königthum; ein Gewehr, so gewinnt er ruhmreiche Schlachten. Ein Napoleon sowohl, wie ein Danton verließen sich auf ihn. Ruft ihn das Vaterland, so wird er Soldat; ist die Freiheit bedroht, so baut er Barrikaden. Man sehe sich vor. Sein Zorn kann Stoff zu Epopöen liefern, sein Kittel sich in eine Chlamys verwandeln. Nehmt Euch in Acht. Aus der ersten besten Straße macht er einen caudinischen Engpaß. Der Vorstädter wird groß, wenn die Stunde schlägt; der Kleine steht auf, sein Blick wird furchtbar, sein Atem wird ein Sturm, der die Alpen umblasen kann. Dem Arbeiter der pariser Vorstädte verdankt es die Revolution, daß sie mittels der Armee Europa erobern kann. Seine Hauptfreude ist Gesang und findet man das Lied, das seiner Natur entspricht, so kann man Wunder sehen. So lange er nur die Carmagnole singt, kann er nur einen Ludwig XVI. stürzen; mit der Marseillaise befreit er die Welt.
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