»Das wäre demnach ein Süßwassersee? fragte Pencroff.
– Ganz gewiß, erwiderte der Ingenieur, denn er nährt sich von dem Wasser, das aus den Bergen abfließt.
– Ich sehe auch einen kleinen Fluß, der in denselben mündet, sagte Harbert, und wies nach einem schmalen Wasserlaufe, dessen Quell offenbar in den westlichen Vorbergen zu suchen war.
– Wirklich, bestätigte Cyrus Smith, und da dieser Bach dem See zufließt, ist es wahrscheinlich, daß das Wasser nach der Seite des Meeres hin auch einen Abfluß hat. Doch das werden wir bei unserer Rückkehr in Erfahrung bringen.«
Dieser kleine, sehr geschlängelte Wasserlauf und der schon bekannte Fluß bildeten das ganze hydrographische System, so weit es die Beobachter augenblicklich zu übersehen vermochten. Damit war die Möglichkeit jedoch nicht ausgeschlossen, daß unter den Bäumen, welche ja aus zwei Drittheilen der Insel einen ungeheuren Wald machten, noch verschiedene Bergflüßchen nach dem Meere verliefen. Bei der Fruchtbarkeit dieser Landstrecken und ihrem Reichthum an prächtigen Pflanzenexemplaren der gemäßigten Zonen wurde das sogar höchst wahrscheinlich. Die Nordseite dagegen zeigte keine Spur von Bewässerung, wenn man etwa einige Sümpfe im Nordosten abrechnete; mit ihren Dünen, Sandflächen und ihrer auffallenden Unfruchtbarkeit stand diese in grellem Widerspruche zu dem übrigen Erdbodenreichthum.
Den Mittelpunkt der Insel nahm der Vulkan übrigens nicht ein. Er erhob sich vielmehr im nordwestlichen Theile derselben, und bildete gleichsam die Grenze zweier Zonen.
Im Südwesten, Süden und Südosten von demselben versteckten sich die Kämme der Vorberge unter einer Decke von dichtem Grün. Nach Norden hin konnte man dieselben aber bis dahin verfolgen, wo sie sich in den sandigen Ebenen allmälig verliefen. Nach derselben Seite hin hatten sich in der Vorzeit auch die Eruptionsmassen gewendet, und ein breiter Lavastrom reichte bis zu jenem Haifischrachen, der den Golf im Nordosten bildete.
Eine Stunde über blieben Cyrus Smith und seine Freunde auf dem Gipfel des Berges. Unter ihren Augen breitete sich die Insel aus wie ein Reliefplan mit seinen verschiedenen Farben, dem Grün für die Waldung, dem Gelb für den Sand, und dem Blau für die Gewässer. So prägte sich ihnen ein Gesammtbild ein, dem freilich die Details des unter dem Grün verborgenen Erdbodens, der Sohlen der schattigen Thäler und des Inneren der engen zu Füßen des Vulkans verlaufenden Schluchten vorläufig abgingen.
Jetzt blieb noch eine wichtige Frage, welche für die Zukunft der Schiffbrüchigen von weitreichendem Einflusse erschien, zu entscheiden.
War die Insel bewohnt?
Der Reporter warf diese Frage auf, welche man nach der aufmerksamsten Betrachtung aller einzelnen Theile des Landes verneinen zu können glaubte.
Nirgends zeigte sich in der That eine Spur der Menschenhand, kein Dorf, keine einzelne Hütte, keine Fischerei-Anlage am Ufer. Auch wirbelte kein Rauch in die Luft empor, der die Anwesenheit von Menschen verrathen hätte. Freilich trennte die Beobachter ein Zwischenraum von wohl dreißig Meilen von den äußersten Punkten, d.h. der Schwanzspitze, welche sich nach Südwesten erstreckte, und selbst für Pencroff's Augen möchte es schwer gewesen sein, dabei eine menschliche Wohnung deutlich zu erkennen. Auch den grünen Vorhang, der fast drei Viertheile der Insel bedeckte, vermochte man ja nicht zu lüften, um zu entscheiden, ob er nicht irgendwo kleine Niederlassungen berge. Im Allgemeinen bevölkern indessen die Bewohner der im Stillen Oceane verstreuten Inseln und Eilande nur das Küstengebiet, welches hier vollständig verlassen erschien.
Bis auf Weiteres durfte man die Insel demnach für unbewohnt halten.
Wurde sie aber vielleicht zeitweilig von Eingeborenen benachbarter Inseln besucht? Diese Frage war schwer zu beantworten. In einem Umkreise von fünfzig Meilen konnte man kein Land wahrnehmen. Fünfzig Meilen können jedoch malayische Boote sowohl, als auch polynesische Piroguen mit Leichtigkeit zurücklegen. Alles hing also von der Lage der Insel, ihrer Isolirung im Pacifischen Oceane oder ihrer Annäherung an irgend einen Archipel desselben ab. Würde es nun Cyrus Smith gelingen, die geographische Lage derselben nach Länge und Breite ohne die sonst nöthigen Instrumente zu bestimmen? Wohl mußte das schwierig sein. Im Zweifelsfalle schien es also rathsam, von einem möglichen Ueberfalle durch Eingeborene nicht unvorbereitet betroffen zu werden.
Die Untersuchung der Insel war beendet, ihre Gestalt bestimmt, ihr Relief annähernd gemessen, ihre Ausdehnung berechnet und ihre Hydrographie und Orographie erkannt. Die Lage der Wälder und freien Flächen hatte der Reporter seinem Plane wenigstens im Groben eingezeichnet. Jetzte konnte man an das Herabsteigen denken, um den Boden unter dreifachem Gesichtspunkte, nämlich bezüglich seiner mineralischen, vegetabilischen und animalen Hilfsquellen, zu erforschen.
Bevor er aber das Zeichen zum Aufbruch gab, wendete sich Cyrus Smith mit seiner ruhigen und ernsten Stimme noch einmal an seine Gefährten:
»Da liegt nun das Stückchen Land vor Euch, meine Freunde, begann er, das Land, auf welches die Hand des Allmächtigen uns geworfen hat. Hier werden wir also, und vielleicht lange Zeit, unser Leben hinbringen. Vielleicht erlöst uns auch eine unerwartete Hilfe, wenn ein Schiff durch Zufall ... ich sage, durch Zufall, denn diese Insel ist von zu geringer Ausdehnung; sie bietet den Fahrzeugen kaum einen schützenden Hafen, und die Befürchtung, daß sie außerhalb der befahrenen Straßen liege, d.h. zu südlich für die Schiffe, wel che die Inselgruppen des Stillen Weltmeeres besuchen, und zu nördlich für diejenigen, welche nach Umsegelung des Cap Horn nach Australien steuern, hat viel Wahrscheinlichkeit für sich. Es kann mir nicht beikommen, Euch unsere Lage zu verhehlen ...
– Und Sie thun recht daran, fiel ihm der Reporter in's Wort. Sie sprechen zu Männern, welche Vertrauen zu Ihnen haben, und auf die Sie zählen können. – Nicht wahr, meine Freunde?
– Ich werde Ihnen stets gehorchen, Mr. Cyrus, erklärte Harbert und ergriff die Hand des Ingenieurs.
– Sie sind mein Herr, immer und überall! rief Nab.
– Was mich betrifft, sagte der Seemann, so will ich nicht mehr Pencroff heißen, wenn ich nicht zu jeder Arbeit willig bin, und wenn es Ihnen beliebt, Mr. Smith, so machen wir aus dieser Insel ein kleines Amerika! Wir bauen Städte und Eisenbahnen, richten Telegraphen ein, und eines schönen Tags, wenn die Insel völlig umgewandelt, eingerichtet und cultivirt ist, bieten wir sie der Unionsregierung an. Nur Eines verlange ich dabei ...
– Und das wäre? fragte der Reporter.
– Daß wir uns nicht mehr als Schiffbrüchige betrachten, sondern als Ansiedler, welche hierher gekommen sind, eine Colonie anzulegen!«
Cyrus Smith konnte sich zwar des Lachens kaum enthalten, doch wurde des Seemanns Vorschlag einstimmig angenommen. Dann sprach er seinen Dank für das ihm bewiesene Vertrauen aus und fügte hinzu, daß er auf die Energie seiner Gefährten ebenso, wie auf die Hilfe der Vorsehung rechne.
»Nun denn, vorwärts nach den Kaminen! rief Pencroff.
– Noch einen Augenblick, meine Freunde, sagte da der Ingenieur; es erscheint mir zweckmäßig, der Insel, den Caps und Vorgebirgen, sowie dem Flüßchen, das wir vor uns sehen, bestimmte Namen zu geben'
– Sehr gut, bemerkte der Reporter. Das vereinfacht in der Zukunft wesentlich alle Instructionen, die wir zu geben oder zu befolgen haben.
– Wirklich, bestätigte der Seemann, das ist schon Etwas, sagen zu können, wohin man geht oder woher man kommt, es erweckt den Begriff einer Heimat, der man angehört.
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