Markus telefonierte noch immer, hörte jetzt aber aufmerksam zu. Dabei schüttelte er mehrmals den Kopf, als wäre er mit dem, was er hörte, alles andere als einverstanden.
Er stand auf und umrundete den Schreibtisch, als wollte er das Arbeitszimmer verlassen. Doch das tat er nicht, denn sonst wäre er unweigerlich auf Sascha gestoßen. Stattdessen begann er, auf der freien Fläche vor dem Schreibtisch hin und her zu marschieren, wie er es während des Telefonierens manchmal tat. Er hatte nur Platz gebraucht, weil er allem Anschein nach zu erregt und wütend war, um weiterhin auf seinem Chefsessel hinter dem Schreibtisch zu verharren. Noch ein Zeichen, wie aufgewühlt und aufgebracht er war.
Plötzlich blieb er mit dem Rücken zur Tür stehen, gestikulierte mit der freien linken Hand, um seine Worte zu unterstreichen, und sprach in sein Smartphone.
Cora konnte die Tür zum Flur nicht sehen, da sie außerhalb des Bereichs lag, den die Kamera erfasste, spürte es jedoch trotzdem, als sie aufgerissen wurde. Im nächsten Moment tauchte auch schon die große, schwarz gekleidete Gestalt mit der übergestülpten Kapuze im Bild auf und stürzte sich auf Markus, der noch immer mit dem Rücken zur Tür stand und nicht wusste, wie ihm geschah und was mit der Brachialgewalt eines mittelschweren Hurrikans plötzlich über ihn herfiel.
»Jetzt doch noch nicht, du Idiot!«, entfuhr es Cora, denn noch immer bestand die Telefonverbindung zu Markus’ unbekanntem Gesprächspartner, der alles mithören konnte, was geschah.
Sascha packte Markus von hinten, bevor dieser überhaupt in der Lage war, in irgendeiner Form auf den eindringenden Hünen zu reagieren, und legte seine behandschuhten Hände um dessen Hals.
Markus ließ das Handy fallen, hob die Arme und zerrte reflexartig an den Pranken, die ihm Stahlklammern gleich die Luft abschnürten. Doch es ähnelte dem Versuch, mit einer Barriere aus Papier einen Sattelschlepper aufzuhalten, und war daher von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Markus war zwar lediglich zehn Zentimeter kleiner als Sascha und alles andere als ein Schwächling, da er sich auf dem Crosstrainer fit hielt und Judo betrieb. Doch gegen den muskelbepackten Hünen, der wie aus dem Nichts hinter ihm aufgetaucht war, hatte er aufgrund seiner ungünstigen Position dennoch keine Chance.
Da Sascha den anderen Mann komplett überrumpelt und von hinten angegriffen hatte, kam Markus gar nicht dazu, seine Judogriffe anzuwenden. Außerdem führte das abrupte Abschneiden der Luftzufuhr vermutlich dazu, dass er in Panik verfiel und keinen vernünftigen Gedanken mehr fassen konnte.
Cora sah, dass Markus’ Füße gar nicht mehr den Boden berührten, sondern in der Luft hingen, während er damit zappelte wie ein außer Kontrolle geratener, durchgeknallter Hampelmann. Falls die Bewegungen allerdings nicht unkontrolliert, sondern gezielt erfolgten, um seinem heimtückischen Angreifer einen Tritt vors Schienbein oder in den Schritt zu verpassen, so gelang ihm das nicht, da dieser hinter ihm stand, dank seiner langen Arme ausreichend Abstand hielt und somit nahezu unerreichbar war.
Cora hatte es Sascha unzählige Male eingebläut, sich auf keinen Fall auf einen Zweikampf mit Markus einzulassen, sondern ihn hinterrücks anzugreifen und rasch zu töten. Deshalb erfüllte es sie jetzt mit Genugtuung, dass er ihre Anweisungen so genau befolgt hatte.
Sie hatte zwar gedacht, der Anblick, wie ihr Ehemann ermordet wurde, würde ihr etwas ausmachen, doch nun stellte sie erstaunt fest, dass es sie überhaupt nicht berührte. Der Mann, der im Griff des schwarz gekleideten Hünen zappelte, und dessen Bewegungen immer mehr erlahmten, hätte genauso gut ein wildfremder Mensch sein können. Aber vielleicht spielte es ja auch eine Rolle, dass sie wusste, dass Markus gar nicht sterben, sondern wie durch ein Wunder überleben würde.
Das Zappeln der Füße wurde schwächer und erstarb schließlich vollends. Sie zuckten und streckten sich noch ein paarmal, dieses Mal wirklich unkontrolliert, dann erschlaffte der Körper und rührte sich nicht mehr.
Cora beugte sich unwillkürlich nach vorn, als könnte sie die Szene dadurch besser sehen, während sie höchst konzentriert verfolgte, was weiterhin geschah.
Jetzt! , dachte sie. Jetzt ist der Moment, wo Sascha die Sache vergeigt, nachdem er bislang alles richtig gemacht hat.
Dadurch, dass es keinen Ton gab, hatte die Aufnahme etwas Gespenstisches und Unnatürliches an sich. Dennoch hatte sich Cora dank ihrer lebhaften Fantasie das Schnaufen, Grunzen und erfolglose Japsen nach Luft gut hinzudenken können. Doch nun, nachdem Markus’ Körper erschlafft war und leblos wirkte, musste Ruhe eingekehrt sein, die vermutlich lediglich durch Saschas heftiges Schnaufen unterbrochen wurde.
Cora sah Markus’ Handy am Boden liegen und fragte sich, was die Person am anderen Ende der Verbindung von den Geräuschen gehalten hatte. Oder hatte sie schon längst aufgelegt, weil sie gedacht hatte, Markus wollte sie nur verarschen, schließlich hatten sie sich noch kurz zuvor heftig gestritten?
Sascha senkte seine mächtigen, langen Arme und ließ den schlaffen Körper zu Boden sinken, wo er reglos liegenblieb. Cora konnte natürlich nicht erkennen, ob noch immer Leben in Markus’ leblos wirkender Gestalt steckte, doch es musste der Fall sein, schließlich hatte er überlebt. Doch Sascha schien überzeugt zu sein, dass er den Ehemann seiner Geliebten getötet hatte.
Er bückte sich und hob das Handy auf, das Markus aus der Hand gefallen war. Er hob es ans Ohr und lauschte, schien jedoch nichts zu hören, denn er zuckte die Achseln, schaltete das Gerät aus und steckte es ein. Dann sah er sich um.
Cora hatte ihn angewiesen, alles so zu lassen, wie er es vorgefunden hatte. Er sollte lediglich die Lichter löschen, wenn er ging, und anschließend Markus’ Leiche verschwinden lassen. Um alles andere hatte sich Cora nach ihrer Rückkehr gekümmert, um es so aussehen zu lassen, als hätte ihr Mann das Haus aus freien Stücken und auf seinen eigenen Beinen verlassen. So hatte sie seine Schlüssel, seine Brieftasche und ein paar Kleidungsstücke verschwinden lassen. Sie hatte sich zwar gewundert, wo Markus’ Handy geblieben war, war allerdings davon ausgegangen, dass Markus es in der Hosentasche gehabt hatte, als Sascha ihn umgebracht hatte, und es dann mit der Leiche im Wald verscharrt worden war. Nun wusste sie wenigstens, was mit dem Handy geschehen war.
Doch wer war am anderen Ende der Leitung gewesen? Und was hatte der Gesprächspartner von dem, was passiert war, mitbekommen?
Cora nahm sich vor, Sascha nach dem Handy zu fragen. Wenn er klug gewesen war, hatte er es entsorgt oder gemeinsam mit Markus im Wald vergraben. Doch da Sascha ihrer Meinung nach dafür nicht clever genug war und ohne ausdrückliche Anweisung gern das Verkehrte tat, bestand auch die Möglichkeit, dass er das Handy noch immer besaß. Wenn ja, dann wäre das ausnahmsweise ein Glücksfall, weil Cora so unter Umständen feststellen konnte, mit wem Markus zuletzt telefoniert hatte.
Doch das war momentan zweitrangig. Wichtiger war die Frage, warum Sascha versagt hatte und Markus noch immer am Leben war. Cora hatte sich von den Videoaufnahmen die Antwort auf diese Frage erhofft, war aber nicht unbedingt schlauer als zuvor.
Markus’ regloser Körper wirkte auf den Aufnahmen zwar tatsächlich wie tot, doch da er nun in Regensburg aufgetaucht war, musste er zwangsläufig noch immer am Leben gewesen sein. Und Sascha hatte schlichtweg zu früh aufgehört, ihn zu erwürgen, und sich täuschen lassen.
Stümper!
Cora beschloss, ein ernstes Wörtchen mit Sascha zu reden, wenn sie in Kürze mit ihm sprach. Denn durch seinen Fehler hatte er ihren ausgeklügelten Plan torpediert und scheitern lassen. Markus war noch immer da, und mit Ausnahme der Tatsache, dass er das Gedächtnis verloren hatte, hatte sie durch die Aktion rein gar nichts gewonnen.
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