Im Tresor befanden sich ihre persönlichen wichtigen Unterlagen, ihre Sparbücher, etwas Bargeld für den Notfall und ihr Schmuck. Doch all das interessierte sie momentan nicht. Worauf sie es abgesehen hatte, lag auf der rechten Seite im oberen Fach. Sie griff danach und schloss die Tresortür wieder, verzichtete aber vorerst darauf, das Bild wieder davor aufzuhängen.
Sie wandte sich um und ging zum Schreibtisch. Das Display des Laptops war noch immer aufgeklappt und der Rechner in Betrieb. Cora nahm hinter dem Schreibtisch Platz und öffnete das Speicherkarten-Etui, das sie dem Tresor entnommen hatte. Im Innern befanden sich zwei Speicherkarten, die lediglich mit den Ziffern 1 und 2 beschriftet waren. Sie nahm die Karte mit der 1 und schob sie in das Kartenlesegerät des Laptops.
Die Daten wurden eingelesen, dann öffnete sich auf dem Bildschirm ein Menü mit mehreren Auswahlmöglichkeiten. Cora entschied sich für die Option, die es ihr erlaubte, den Ordner zu öffnen, um die Dateien anzuzeigen. Einen Augenblick später öffnete sich ein Fenster, und Cora hatte den Inhalt des Datenträgers vor sich. Es gab jedoch nur eine einzige Datei, und bei dieser handelte es sich um eine Videodatei.
Cora doppelklickte auf die Datei, die den unverfänglichen Namen »Film1« trug, und wartete dann ungeduldig darauf, dass die Aufnahme abgespielt wurde.
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Schon als Cora damals den Plan zur Ermordung ihres Ehemanns und anschließenden Beseitigung der Leiche gefasst hatte, war ihr bewusst gewesen, dass Sascha früher oder später zum Problembären werden könnte.
Sie konnte sich nämlich partout nicht vorstellen, mit ihm den Rest ihres Lebens zu verbringen und alt zu werden. Als Liebhaber und gelegentlicher Sexualpartner war er aufgrund seiner körperlichen Vorzüge unschlagbar, doch als Lebenspartner wegen seiner intellektuellen Defizite vermutlich ein Reinfall.
Die entscheidende Frage hatte also gelautet: Wie sollte sie sicherstellen, dass Sascha sie nicht mit seinem Wissen erpresste, wenn sie seiner irgendwann müde wurde und ihm den Laufpass gab. Schließlich hatte er sie in der Hand, denn er brauchte der Polizei nur einen anonymen Hinweis auf den Ort im Ebersberger Forst zu geben, an dem er Markus verscharrt hatte, und einfach behaupten, Cora hätte ihren Mann umgebracht. Sie hatte zwar ein Alibi für den Tattag, doch wenn der genaue Tatzeitpunkt nach mehreren Monaten in der Erde möglicherweise gar nicht mehr feststellbar war, war dieses Alibi nicht mehr viel wert. Sie wiederum konnte dann im Gegenzug schlecht auf Sascha zeigen und ihn des Mordes bezichtigen, ohne ihre eigene Mittäterschaft zu offenbaren. Denn wie sollte sie sonst den Mörder kennen, wenn sie ihn nicht selbst mit dem Mord beauftragt oder ihm – beispielsweise indem sie ihm einen Ersatzschlüssel gegeben und den Code für die Alarmanlage verraten hatte – sogar dabei geholfen hatte.
Um dem vorzubeugen, hatte sie, bevor sie zu ihren Eltern gefahren war, zwei kabellose Miniatur-Überwachungskameras besorgt und an unauffälligen Stellen in der Wohnung deponiert. Die Kameras schalteten sich zu einem zuvor von ihr einprogrammierten Zeitpunkt ein, filmten alles, was sich in den nächsten Stunden vor ihren Weitwinkel-Objektiven abspielte, in bester HD-Qualität und speicherten die Aufnahmen auf den Micro-SD-Karten.
Von den Kameras und den Aufnahmen hatte sie Sascha natürlich nichts erzählt. Sie wollte ihn erst dann damit konfrontieren, wenn es irgendwann notwendig werden sollte, um ihn davon abzuhalten, Dummheiten zu begehen. Immerhin würden die Aufnahmen beweisen, dass Sascha in jener Nacht in ihr Haus eingedrungen war und Markus umgebracht hatte. Und Beweise, dass sie ihn dazu angestiftet oder auch nur dazu ermutigt hatte, gab es hingegen nicht.
Doch so, wie es jetzt, nach dem Anruf der Ermittlerin aussah, hatte Sascha überhaupt keinen Mord begangen, sondern allenfalls einen gescheiterten Mordversuch.
Cora hatte sich die Aufnahmen bislang noch gar nicht angesehen. Sie hatte zwar erstaunlicherweise keinerlei Skrupel dabei empfunden, den Mann umbringen zu lassen, mit dem sie seit mehr als zwei Jahrzehnten liiert war, doch bei dem Gedanken, den Mord mitansehen zu müssen, hatte sie ein mulmiges Gefühl.
Doch nun führte aufgrund der neuesten Entwicklungen kein Weg daran vorbei. Sie musste sich die Aufnahmen ansehen, um zu überprüfen, was damals hier im Haus geschehen war und warum Sascha versagt hatte.
Denn ihr gegenüber hatte er behauptet, dass die Sache erledigt und alles nach Plan gelaufen wäre, als sie ihn auf der Rückfahrt von ihren Eltern von einem öffentlichen Fernsprecher ungefähr auf halber Strecke angerufen hatte.
Ohne dass es Cora bewusst wurde, vollführte sie mit ihrem Zeigefinger erneut kleine Kreise auf ihrem Kopf und wickelte ihre Haare um ihren Finger. Dann startete endlich die Aufnahme der ersten Kamera, und Cora hielt die Luft an.
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Doch schon bald ließ Cora die angehaltene Luft wieder entweichen, denn die ersten Bilder, die sie sah, waren wenig spektakulär. Schließlich hatte sie die Kamera sicherheitshalber so programmiert, dass die Aufnahme bereits um neun Uhr abends startete, also eine Stunde vor dem Zeitpunkt, an dem Sascha ins Haus kommen und den Mord begehen sollte. Diese Zeit und das Datum wurden auch am unteren linken Bildrand eingeblendet.
Sie hatte die erste Kamera in Augenhöhe an der Garderobe im Eingangsbereich befestigt. Rechts und links hingen Jacken, sodass sie nicht so leicht zu entdecken war. Lediglich in der Bildmitte befand sich ein schmaler vertikaler Streifen, der die Haustür und den Bereich unmittelbar davor zeigte. Die Qualität der Aufnahme war hervorragend, man konnte sogar kleinste Details deutlich erkennen. Auch die Beleuchtung war ausreichend, denn Markus hatte immer überall das Licht brennen lassen und sich wenig um ihre ständigen Bitten gekümmert, die Lichter auszumachen, wenn er das Zimmer verließ, um umweltbewusst zu handeln und Energie zu sparen.
Cora griff nach der Maus und bewegte damit den Schieber der unteren Menüleiste so weit nach rechts, dass die Aufnahme um fünfundfünfzig Minuten vorgespult wurde. Die Szene veränderte sich zwar nicht, als handelte es sich nur um ein Foto, doch die Uhrzeit wechselte und zeigte jetzt 21:55 an.
Cora wartete zwei Minuten, den Blick starr auf das Videobild gerichtet, das allerdings weiterhin unverändert blieb. Allmählich wurde sie ungeduldig. Wieso tauchte Sascha nicht endlich auf? Hatte sie ihm denn nicht eingetrichtert, dass er pünktlich sein sollte? Schließlich hielt sich Markus zum damaligen Zeitpunkt vermutlich in seinem Arbeitszimmer auf, um auf Coras angekündigten Anruf zu warten, der allerdings nicht kommen würde. Doch wenn sich Sascha arg verspätete und der Anruf ausblieb, würde Markus das Arbeitszimmer möglicherweise schon bald wieder verlassen. Und die günstige Gelegenheit für Sascha, unbemerkt ins Haus zu kommen und ihren Mann zu überraschen, wäre wahrscheinlich dahin. Lag hier also die Ursache für Saschas Versagen? Hatte er letztendlich nur versagt, weil er aus irgendeinem Grund zu spät gekommen war?
Es juckte ihr in den Fingern, erneut ein Stück zu überspringen, doch sie hatte Angst, sie könnte dadurch den Moment verpassen, in dem Sascha das Haus betrat. Also ließ sie es bleiben und seufzte nur frustriert.
Und tatsächlich, eine halbe Minute später wurde ihre Geduld belohnt.
Die Haustür öffnete sich weit genug, damit sich eine große breitschultrige Gestalt hindurchschieben konnte. Dann wurde sie sofort wieder geschlossen.
Alles spielte sich in absoluter Lautlosigkeit ab, doch das lag nicht etwa daran, dass sich der Eindringling völlig geräuschlos bewegte, sondern allein daran, dass die Miniatur-Überwachungskameras lediglich Bilder und keinen Ton lieferten.
Nachdem er die Tür geschlossen hatte, sah sich der Mann um. Er entdeckte die Funk-Alarmzentrale, die genau dort an der Wand hing, wo Cora es ihm beschrieben hatte. Sollte er nicht innerhalb der nächsten Sekunden den korrekten PIN-Code eintippen, würde die Anlage Alarm auslösen. Doch der Eindringling reagierte endlich, trat an das Gerät und gab den richtigen Code ein, den er anscheinend vom rechten Handgelenk ablas, wo er ihn notiert hatte, um ihn nicht zu vergessen. Dann blieb er für ein paar Sekunden reglos stehen und schien konzentriert zu lauschen.
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