Der Mann war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet und trug Lederstiefel, Jeans, dünne Handschuhe und einen Kapuzenpulli. Die Kapuze hatte er allerdings nicht hochgeschoben.
Obwohl Cora das Gesicht des Mannes bislang noch nicht gut genug gesehen hatte, war seine markante Gestalt in ihren Augen dennoch unverkennbar. Trotz der Kleidung konnte sie die trainierten Muskeln erkennen, die sie schon so oft in natura und unverpackt gesehen und bewundert hatte. Dennoch hoffte sie, Sascha würde sich endlich umdrehen, um der Kamera sein Gesicht zu zeigen.
Und als hätte er ihren stummen Wunsch aus der Zukunft gehört, drehte er sich in diesem Moment tatsächlich um und wandte der versteckten Kamera seine Frontseite zu. Das Abbild seines Gesichts auf dem Monitor war gestochen scharf und unverkennbar und würde jeden Kriminalbeamten, Staatsanwalt und Richter davon überzeugen, dass es Sascha gewesen war, der in der Nacht, als Markus verschwand, ins Haus eingedrungen war. Sollte er es dennoch abstreiten wollen, würde er sich angesichts dieser Aufnahme nur der Lächerlichkeit preisgeben. Und falls er behauptete, Cora hätte ihm nicht nur den Code für die Alarmanlage, sondern auch den Hausschlüssel gegeben, dann konnte er das nicht beweisen, denn wie Cora es von ihm verlangt hatte, hatte er den Schlüssel auf der Flurkommode neben dem Telefon deponiert, bevor er wieder verschwunden war.
Cora bemerkte erst jetzt, dass sie breit grinste, denn ihr Plan, mit den heimlichen Videoaufnahmen ein Druckmittel in der Hinterhand zu haben, war aufgegangen. Und sollte die Polizei für den Fall, dass sie es tatsächlich einsetzen musste, fragen, warum sie die Aufnahmen nicht gleich präsentiert hatte, würde sie einfach behaupten, dass sie sie erst jetzt entdeckt hatte, weil Markus die Kameras ohne ihr Wissen angebracht hatte, möglicherweise aus Angst vor genau dem Mann, der nun auf den Aufnahmen zu sehen war.
Doch dann verblasste ihr Grinsen wieder, als ihr erneut bewusst wurde, dass sich durch Markus’ Auftauchen ohnehin alles verändert hatte. Es gab nämlich gar keinen Mord, für den Sascha und sie hinter Gitter kommen konnten. Sascha hatte niemanden ermordet, und sie hatte sich weder der Anstiftung noch der Beihilfe schuldig gemacht. Alles, was geschehen war, war nur ein versuchter Mord, der zwar ebenfalls strafbar war, doch das auch nur dann, wenn Markus seine Erinnerungen daran wiedererlangte.
Doch dazu würde es nicht kommen, wenn Cora dabei ein Wörtchen mitzureden hatte. Sie wusste zwar noch nicht, wie sie es anstellen sollte, Markus umzubringen – und dieses Mal wirklich und endgültig –, ohne nach seinem Verschwinden und Wiederauftauchen Verdacht zu erregen, doch irgendetwas würde ihr schon einfallen. Dabei wäre ein Unfall nach allem, was passiert war, vermutlich am besten und effektivsten. Aber nicht sofort, sondern erst in ein paar Wochen, wenn etwas Gras über die Sache gewachsen war. Und bis dahin konnte Cora nur hoffen, dass Markus seine Erinnerungen nicht zurückbekam.
Doch im Augenblick hatte Cora noch keine Zeit, sich mit der Ausarbeitung eines neuen Plans zu beschäftigen, da die Aufnahmen der verborgenen Überwachungskamera im Eingangsbereich ihre volle Aufmerksamkeit erforderte.
Nachdem Sascha eine Weile an Ort und Stelle ausgeharrt und gelauscht hatte, nickte er nun zufrieden und lächelte dabei.
Cora überlegte, ob sie dieses Bild ausdrucken sollte, um es Sascha für den Fall des Falles als Beweis zu präsentieren, dass sie tatsächlich im Besitz von Videoaufnahmen von ihm am Tatabend war. Doch sie entschied, dass sie darauf momentan noch verzichten konnte. Wozu schlafende Hunde wecken? Außerdem wollte sie vorerst keine Beweise fabrizieren, die in die falschen Hände gelangen und sie beide in Teufels Küche bringen konnten.
Stattdessen beobachtete sie aufmerksam, was weiter geschah. Obwohl sie wusste, wie es ausging, war sie dennoch gespannt und aufgeregt. Es war wie bei diesem Film über die Titanic, denn da hatte sie auch von vornherein gewusst, wie es endete, und die Handlung gleichwohl gebannt verfolgt.
Sascha hob seine riesigen Hände, bei deren Anblick ein wohliger Schauer über ihren ganzen Körper lief, weil sie wusste, wie zärtlich er mit diesen Händen sein konnte, die aussahen, als könnte er damit einen anderen Mann ohne allzu große Mühe entzweibrechen.
Doch trotz all seiner Kraft war es ihm letztendlich nicht gelungen, Markus wie geplant zu ermorden. Und Cora wollte endlich wissen, warum nicht.
Sascha ergriff die Kapuze und schob sie sich über den Kopf, sodass sein Gesicht im Schatten lag und nicht mehr zu erkennen war. Cora war froh, dass er das nicht schon vor dem Haus getan hatte. Doch jetzt war es ihr egal, da sein Gesicht bereits auf der Aufnahme verewigt war.
Dann setzte sich Sascha abrupt in Bewegung und verließ den Bereich, den das Objektiv der Kamera erfasste.
Cora überlegte kurz, ob sie sich das Ende der Aufnahme ansehen sollte, wenn Sascha das Haus wieder verließ, beschloss aber, sich alles in chronologischer Reihenfolge anzuschauen. Erst wollte sie sehen, was die andere Kamera aufgezeichnet hatte. Möglicherweise erfuhr sie auf diese Weise auch eher, was schiefgelaufen war.
Also stoppte sie das Video, merkte sich die angezeigte Uhrzeit und entfernte dann die Speicherkarte, um sie durch die zweite zu ersetzen.
Die zweite Überwachungskamera hatte sie in Markus’ Arbeitszimmer in einem Bücherregal deponiert. Sie hatte dort auf einem der Fachbücher im Schatten gelegen, sodass sie im Grunde nur dann entdeckt worden wäre, wenn jemand zufällig das betreffende Buch herausgenommen oder gezielt danach gesucht hätte. Doch beides war an jenem Abend nicht unbedingt zu befürchten gewesen und auch nicht eingetreten.
Die Aufnahme startete eine halbe Stunde nach der im Eingangsbereich und zeigte durch das Weitwinkel-Objektiv einen großen Ausschnitt des Arbeitszimmers. Markus’ wuchtiger Schreibtisch aus dunklem Holz war von der Seite zu sehen und bildete den Mittelpunkt. Das Licht brannte zwar, wie es nicht anders zu erwarten gewesen war, doch Markus war nicht zu sehen. Allerdings war es dafür auch noch zu früh, denn Coras Anruf sollte erst in einer halben Stunde erfolgen.
Cora bewegte mit der Maus den Schieberegler und spulte nach vorn, bis die digitalen Ziffern exakt die Uhrzeit anzeigten, die sie sich von der anderen Aufnahme gemerkt hatte.
Nun war Markus zu sehen, der hinter seinem Schreibtisch saß, sein Handy ans Ohr hielt und mit jemandem telefonierte.
Cora presste verärgert die Lippen aufeinander. Sie hatte damit gerechnet, dass Markus auf ihren Anruf wartete. Doch stattdessen telefonierte er und schien völlig vergessen zu haben, dass sie für diese Uhrzeit ihren zweiten Anruf angekündigt hatte. Mit wem spricht er da bloß? Cora spürte einen unerwarteten Stich der Eifersucht, doch dann entspannte sie sich wieder. Sie kannte ihren Mann nämlich gut genug, um zu sehen, dass er in diesem Moment wütend war und lautstark ins Telefon sprach. Schade, dass sie nicht hören konnte, was er sagte. Doch es sah so aus, als hielte er seinem Gesprächspartner eine gehörige Standpauke.
Ihr Blick wanderte zur Zeitanzeige, die nun zweiundzwanzig Uhr drei anzeigte. Laut Plan sollte Sascha längst vor der Tür stehen, die prinzipiell geschlossen war, wenn Markus telefonierte, und auf einen geeigneten Moment warten, um ihn zu überraschen. Durch das Schlüsselloch konnte er sowohl den Schreibtisch als auch den Mann dahinter sehen.
Cora spürte, dass ihre Hände feucht waren. Das Wissen, dass Sascha in diesem Moment bereits vor der Tür war und darauf lauerte, sie endlich aufreißen und hereinstürmen zu können, um den ahnungslosen Mann hinter dem Schreibtisch zu ermorden, ließ ihr Herz schneller schlagen. Und obwohl sie schon wusste, wie die Sache ausgegangen war, war sie gleichwohl gespannt, was als Nächstes passieren würde.
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