»Das ist verständlich«, antwortet das Mädchen. »Gibt es denn noch mehr, als in dem Anhang des Buches über die Insel der Drachen stehen?«
»Das kenne ich nicht. Was für eine Art ist es, möglicherweise ein Roman? Ich dachte, du wärst meiner Empfehlung gefolgt und hättest die Zauberkenntnisse von Danrya. Die Aufforderung hatte ich als Information für dich in dem Kochbuch hinterlassen.«
»Die Notizen habe ich gelesen und deine Freundin hat auch wirklich viele Sprüche mit mir geübt.«
Runa sucht nach dem Rucksack, der seit ihrer Ankunft im oberen Raum neben ihrem Bett liegt. Sie steht kurz darauf vor ihrer Amme und reicht ihr das Buch.
»Das habe ich von Kaytlin, der Wirtin vom »Fuchs und Gans« bekommen. Wie es in ihren Besitz gelangt ist, hatte sie mir nicht gesagt.«
Atropaia betrachtet den in geprägtes Leder gebundenen Band mit gekrauster Stirn, blättert zum Anhang und liest die aufgelisteten Zaubersprüche.
»Das sind ja eine Menge guter und wirksamer Zauber. Sie decken fast alles ab, wofür Magie genutzt werden kann. Doch einige Sprüche fehlen. Mir fallen sofort fünf, nein sogar sechs ein, die nicht aufgeführt sind. Sie lauten Anghofio, Anghofio totalus, Cum ri buidseachd, Detineo tempus, Miscere und Re-Potentia.«
»Aha. Und was bewirken sie?«
»Die ersten zwei und der fünfte sind Zauber, die sozusagen zum Angriff eingesetzt werden können. Sie lösen eine teilweise oder totale Amnesie aus oder verwirren einen Gegner für eine begrenzte Zeit. Die anderen drei sind mehr defensiv beziehungsweise werden zur Heilung genutzt.«
»Dann sollten wir sie alle üben, bis ich sie beherrsche, meinst du nicht auch?«
»Selbstverständlich. Raika hatte eine ähnlich Einstellung zu Zauberei wie du, wie ich aus deinen Erzählungen herausgehört habe. Sie war eher darum bemüht, einem Gegner nicht zu schaden, wenn sich das irgendwie machen ließ. Deshalb wird dir »Cum ri buidseachd« nützlich sein. Der Spruch dient dazu, einem dunklen Fluch zu widerstehen oder ihn aufzuheben. Das kann in einer Auseinandersetzung mit gegnerischen Zauberern hilfreich sein.«
»Aber …«
»Genau. Das ist der Spruch, den deine Mutter zu spät aufrief, als Creulon einen Todesfluch auf sie schleuderte. Sie hatte diesen finsteren Zauberer nicht bemerkt, der in einem Versteck lauerte. Sie schaffte es nur teilweise, ihn zu aktivieren. Dann schleppte sie sich zu mir zurück. Um unseren Unterschlupf nicht preiszugeben, nahm sie nicht den direkten Weg. Raika schlug zuerst Finten und nutzte wegen zunehmender Schwäche den magischen Sprung erst, als das fast zu spät war. Sobald sie hier ankam, versuchte ich mit dem gleichen Spruch, den Fluch von ihr zu vertreiben. Das war nicht mehr möglich, da inzwischen zu viel Zeit verstrichen war. Ich begann deshalb, ihre Erschöpfung mit »Re-Potentia« aufzuheben, was nur teilweise gelang. Wie du weißt, starb sie kurz nach deiner Geburt. Sie entdeckte das Mal eines Drachensuchers auf deinem linken Unterarm und bat mich, dich in allen Zaubersprüchen zu unterweisen. Sie sah offenbar voraus, dass du jede Hilfe benötigen würdest, um die dir zufallende Aufgabe zu erfüllen. Sie küsste deine Stirn und gab dir deinen Namen, bevor sie ihre Augen für immer schloss.«
Die einkehrende Pause wird durch Runa erst unterbrochen, nachdem geraume Zeit vergangen ist. Sie schluckt mehrfach, um die erneut aufsteigenden Tränen zu verhindern.
»Das war die letzte Szene, die du mir gezeigt hast.«
»Genau.«
»Danke!«
Stille kehrt ein. Das Mädchen lässt sich die Bilder erneut durch den Kopf gehen und überlegt, welche Bedeutung den Zaubersprüchen beikommt, die Atropaia ihr soeben genannt hat.
Sie schluckt einen Kloß hinunter, der sich in ihrem Hals gebildet hat und räuspert sich, bevor sie fragt: »Warum hat Mutter den Schutz gegen dunkle Flüche nicht aufgerufen, bevor sie zu Vaters …«
»Das hätte sie tun sollen, stimmt! Sie hatte aber nicht damit gerechnet, dass dort ein böser Magier auf sie lauern könnte. Außerdem fasste sie den Entschluss, den Ort aufzusuchen, erst kurz zuvor. Sie folgte einem spontanen Einfall. Sie wollte Kenneth offenbar an seinem Grab mitteilen, dass deine Geburt bevorstehen würde. – Eine schwangere Frau handelt nicht immer rational, so wie Raika in dem Fall. Sie hätte in meiner Begleitung dorthin gehen sollen oder erst, nachdem du geboren worden bist. – Doch das ist sozusagen Schnee von gestern.«
»Lag damals eigentlich Schnee? Nennst du mich darum manchmal »Winterkind«?«
»Das ist richtig. Raika sprach oft davon, dass Winterkinder etwas ganz Besonderes sind. Deshalb war sie froh, dass deine Geburt zu der Jahreszeit stattfinden sollte. Als sie das Mal des Drachensuchers sah, lächelte sie und meinte, darin den Hinweis zu erkennen, dass die Herrschaft des Bösen schon bald gebrochen werden könnte. Sie war dabei nicht auf Rache für den Tod von Kenneth aus. Sie freute sich vielmehr, dass zukünftig allen Wesen Gerechtigkeit widerfahren würde, obwohl dazu voraussichtlich eine letzte große Auseinandersetzung notwendig sein würde. Darum auch ihre Bitte, dich bestmöglich in Zauberei auszubilden. Sie wollte sichergehen, dass du optimal gewappnet in den Kampf gehen würdest.«
»Du nanntest noch einen sechsten Zauberspruch. Den hast du bisher nicht erläutert.«
»Richtig. Er lautet »Detineo tempus«. Einmal ausgesprochen friert er jedes Lebewesen im Umkreis zeitlich ein. Davon ausgenommen sind der Magier, der ihn anwendet, und alle Geschöpfe, die beim Aufrufen des Zaubers einen körperlichen Kontakt zu diesem haben. Der Zauberer kann für eine befristete Dauer agieren, ohne dass die Verzauberten das verhindern könnten. Die Zeitdauer und die Größe der eingeschlossenen Umgebung hängen von der Kraft des Magiers ab. Das ist in meinen Augen ein äußerst nützlicher Spruch!«
Drakonia besitzt ein überschäumendes Temperament. Sie reagiert immer dann besonders cholerisch, wenn sie eine gegen sie gerichtete Aktion entdeckt. Sobald sie diese zu ihren Gunsten vereiteln kann, fühlt sie sich wie elektrisiert und sprudelt nur so vor Ideen, wie ihre Gegner bestraft werden sollen. Bei der Verfolgung und Durchsetzung ihrer Gedanken lässt sie keinen Widerspruch zu und braust in dem Fall entsprechend schnell auf.
Ihre treuesten und besten Berater sind der erste Heerführer, der gleichzeitig Anführer der Leibgarde ist, und manches Mal auch der Oberste ihrer Zauberer. Obwohl sie dem das nicht oft deutlich zeigt, sondern eher bemüht ist, das zu verbergen. Bereits beim kleinsten Anzeichen, dass Creulon ihr nicht zustimmen könnte, wird sie wütend. Sie ist stets voller Energie und Tatendrang, was in ihren ruhelosen Wanderungen im Audienzsaal zum Ausdruck kommt. Nur selten fühlt sie sich elend und niedergeschlagen. Das ist letztmalig der Fall gewesen, noch bevor sie zur Königin gekrönt worden ist. Damals dauerte es länger als erwartet, bis ihre Brüder durch gedungene Meuchelmörder umgebracht und ihr Thronanspruch für Außenstehende, die das nicht wussten, rechtens wurde.
Aber in jeder der verschiedenen Stimmungen behandelt sie ihre Untergebenen stets gleich schlecht. Was sie damit bezweckt, ist dem obersten Magier nicht klar. Ob sie dadurch lediglich ihre Macht demonstrieren will? Das kann jedoch schnell zu ihrer Niederlage führen, sollte sie den Bogen überspannen.
Creulon, der seit dem Entkommen der Gefangenen mehr als vierundzwanzig Stunden nach diesen geforscht hat, wird es heiß und kalt. Bei dem Gedanken, dieser Frau die Flucht der Elfe mitteilen zu müssen, bildet sich kalter Schweiß auf seiner Stirn. Das ist völlig untypisch für den starken und selbstbewussten Magier und veranlasst ihn, nach der Ursache zu forschen. Die unvermeidlichen Beleidigungen der Königin kann er mit stoischer Geduld ertragen, eine mögliche Herabstufung seiner Position dagegen nicht. Könnte das der Grund sein?
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