- Ihr Kind dreht die Lautstärke des Fernsehens voll auf.
- Ihr Lebenspartner trägt aus Ihrer Sicht die Haare ungepflegt.
- Ihre Tochter weigert sich, mit in die Kirche zu gehen.
- Ihre Nachbarin putzt nur sehr unregelmäßig die Treppe.
- Ihr Arbeitskollege raucht neuerdings am Arbeitsplatz.
- Ihre Freundin lässt Sie bei einer Verabredung häufiger länger warten.
Haben Sie Probleme mit dem Verhalten einer anderen Person, so ist das darauf zurückzuführen, dass mit diesem Verhalten eine Bedürfnis- oder Wertbeeinträchtigung einhergeht.
Bedürfnisbeeinträchtigungen
Bei der Klassifikation von Bedürfnissen wird gemeinhin zwischen physiologischen und psychischen Bedürfnissen unterschieden. Eine solche Unterteilung findet sich u. a. sowohl in der humanistischen Psychologie von Maslow als auch in der Motivationstheorie in Form einer Handlungstheorie. Ohne die Frage beantworten zu wollen, welche psychischen Bedürfnisse es im Einzelnen gibt, seien beispielhaft einige benannt, die von Dritten beeinträchtigt werden können:
- Herr Schmitz ist gekränkt darüber, dass sein Arbeitskollege ihn morgens nicht begrüßt (Missachtung).
- Frau Weiner „tut es weh“, dass ihr Mann immer so barsch mit ihr redet (mangelnde Zuneigung).
Im Rahmen eines Gordonschen partnerschaftlichen Beziehungskonzepts spielen derartige Deprivationen keine Rolle, da es bei Gordon um spürbare Beeinträchtigungen im Sinne von konkreten, d. h. objektiv wahrnehmbaren, negativen Folgen geht. Werden die vorgenannten Beeinträchtigungen im Gordon-Konzept auch nicht unter Bedürfnisbeeinträchtigungen eingeordnet, so lassen sie sich jedoch im Sinne von Wertbeeinträchtigungen interpretieren:
- Arbeitskollegen haben sich morgens zu grüßen.
- Man sollte wertschätzend miteinander umgehen.
Was sind nun spürbare Beeinträchtigungen, die ja von Bedeutung für die Gordonsche Bedürfnisdeprivation sind? Im Folgenden werden einige Beispiele dargestellt:
- So muss die Mutter die Diele und das Wohnzimmer noch einmal durchwischen, weil ihr Sohn, vom Spielplatz kommend, mit den schmutzigen Schuhen in die Wohnung gestürmt ist. Dadurch kann sie nicht ein Buch lesen, wie sie es vorhatte (mangelnde Freizeit).
- Die Ehefrau dreht den CD-Spieler sehr laut auf, obwohl ihr Mann zu Hause noch Arbeiten fürs Büro erledigen muss und so in seiner Konzentration gestört wird. Dadurch befürchtet er, Fehler zu machen und sich eine Rüge vom Chef einzuhandeln. Zudem muss er länger an seiner Arbeit sitzen (mangelnde Freizeit, berufliche Nachteile).
- Die Mutter ist müde und muss sich überwinden, noch einmal die Diele und das Wohnzimmer zu putzen, wo ihr Sohn gerade mit schmutzigen Schuhen durch die Wohnung gelaufen ist (Anstrengung).
Die Unterscheidung von spürbaren und nicht spürbaren Folgen im Sinne von objektiv wahrnehmbaren Auswirkungen eines Verhaltens ist (möglicherweise) nicht immer eindeutig zu treffen:
- Im Falle der Mutter, die die Wohnung noch einmal zum Teil durchwischen muss, ist die Folge einer geringeren Freizeit direkt wahrnehmbar: Wenn sie noch putzen muss, kann sie nicht gleichzeitig eine Zeitung oder ein Buch lesen.
- Die Müdigkeit der Mutter und die damit einhergehende Anstrengung beim Putzen der Wohnung sind hingegen interne Personenzustände, die über andere wahrnehmbare Sachverhalte erschlossen werden (Die Mutter hat vor der Hausarbeit schon halbtags gearbeitet und sich noch nicht ausgeruht als Anzeichen für Müdigkeit; Sie keucht und seufzt beim Putzen als Anzeichen für Anstrengung).
Wie weiter unten dargelegt wird, werden Bedürfnisbeeinträchtigungen mittels einer bestimmten Botschaft mitgeteilt. Letztendlich kommt es dann darauf an, dass eine vorgetragene Beeinträchtigung für eine andere Person verständlich, d. h. nachvollziehbar ist. Und das ist in der Regel eher gegeben, wenn die Folgen in irgend einer Form (ob direkt oder indirekt) wahrnehmbar sind. Ob ein Verhalten von einer Person als Bedürfnisbeeinträchtigung erlebt wird, ist abhängig von spezifischen Faktoren (Persönlichkeit, momentane Lebenssituation, aktuelle Befindlichkeit, unterschiedliche Bewertung von Personen), auf die schon weiter oben im Zusammenhang mit der Annehmbarkeit eines Verhaltens eingegangen wurde. Ergänzend soll hier nun noch eine weitere Einflussgröße, d. h. der materielle Wohlstand, benannt werden. In Abhängigkeit von einem bestimmten Einkommen werden bestimmte Verluste als Lappalie oder als schmerzhaft angesehen .
So muss sich eine Familie, die von Hartz 4 lebt, noch mehr einschränken, wenn der Mann häufiger in die Kneipe geht. Dieses ist nicht der Fall, wenn die Eheleute berufstätig sind und jeder für sich über ein ausreichendes Einkommen verfügt.
Wertbeeinträchtigungen
Werte drücken bestimmte Einstellungen hinsichtlich Ästhetik, Geschmack, Sitten oder Meinungen aus.
- Herr Albrecht ist gläubiger Christ und lehnt Abtreibung ab.
- Frau Winter schätzt es, wenn ihre Kinder sitzen bleiben, wenn Personen am Tisch noch essen und die Kinder nicht mit vollem Mund sprechen.
- Frau Zeitler ist der Meinung, dass ein Mann nur mit Anzug ins Konzert gehen sollte.
Wertbeeinträchtigungen liegen nun dann vor, wenn Personen eine Missachtung ihrer Einstellungen erleben:
- Die Tochter von Herrn Albrecht will abtreiben.
- Die Kinder von Frau Winter springen, nachdem sie gegessen haben, vom Tisch auf.
- Der Mann von Frau Zeitler will mit Jeans ins Konzert gehen.
Unterscheiden sich Personen darin, ob ein bestimmtes Verhalten eine Bedürfnisbeeinträchtigung nach sich zieht oder nicht, so gibt es ebenfalls individuelle Unterschiede hinsichtlich dessen, was als Wertbeeinträchtigung angesehen wird.
Für Frau Winter ist es nicht akzeptabel, wenn sie morgens im Büro nicht gegrüßt wird, hingegen stört dieses Frau Sommer nicht. Frau Winter hingegen stört es nicht, wenn ihr Sohn Thomas vom Tisch aufsteht, wenn noch nicht alle mit dem Essen fertig sind. Hingegen kann Frau Sommer dieses überhaupt nicht ausstehen.
Bedürfnis- oder Wertbeeinträchtigungen
Es lässt sich nicht per se sagen, ob das Verhalten eines anderen als bedürfnis- oder wertbeeinträchtigend erlebt wird. Das belegen die folgenden Beispiele:
- Dreht der Sohn die Musikanlage laut auf, so kann es sich um eine Bedürfnisbeeinträchtigung handeln, wenn die Mutter daraufhin Kopfschmerzen bekommt, hingegen um eine Wertbeeinträchtigung, wenn sie der Meinung ist, es gehört sich nicht, so einen Lärm in der Wohnung zu machen.
- Beteiligt sich der Ehemann nicht an der Hausarbeit, so kann dieses für eine Ehefrau eine Bedürfnisbeeinträchtigung sein, sofern sie berufstätig ist und deshalb weniger Freizeit hat, hingegen eine Wertbeeinträchtigung, wenn sie nicht berufstätig ist und gleichwohl der Meinung ist, dass Männer heutzutage im Haushalt helfen sollten.
- Wenn Ihr Arbeitskollege viel privat telefoniert, stellt dieses eine Bedürfnisbeeinträchtigung dar, wenn Sie für Ihre Tätigkeit eine hohe Aufmerksamkeit benötigen und Sie durch das laute Sprechen eine längere Zeit für die Tätigkeit erübrigen müssen, so dass Sie gezwungen sind, Überstunden zu machen. Hingegen ist dieses eine Wertbeeinträchtigung, wenn Sie der Meinung sind, dass das häufige private Telefonieren am Arbeitsplatz nicht richtig ist.
Einordnung des unannehmbaren Verhaltens nach der vorliegenden Beeinträchtigung
Sieht eine Person ein Verhalten als unannehmbar an, so muss sie zunächst einmal für sich abklären, woran das liegt: Ist es deshalb der Fall, weil ein oder mehrere Bedürfnisse beeinträchtigt werden oder weil das Verhalten einer bestimmten Ästhetik, dem Geschmack, der Sitte oder Meinung widerspricht? In einigen Situationen kann ein Verhalten darüber hinaus sowohl bedürfnis- als auch wertbeeinträchtigend sein. Es stellt sich dann die Frage, wie eine Person hiermit umgehen soll: Soll sie dem anderen mitteilen, dass sie gleichzeitig sowohl in einem ihrer Bedürfnisse als auch in einem ihrer Werte beeinträchtigt worden ist, oder soll sie nur eine Art der Beeinträchtigung mitteilen? Die Frage lässt sich beantworten, wenn man sich vor Augen führt, dass im Gordon-Modell mit Bedürfnisbeeinträchtigungen anders umgegangen wird als mit Wertbeeinträchtigungen. Dieses spricht dann dafür, für sich abzuklären, welche Beeinträchtigungsart man am liebsten abstellen möchte. Letztendlich läuft es dann darauf hinaus, dass man die Art der Beeinträchtigung zum Thema macht, unter der man am stärksten leidet.
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