1 ...6 7 8 10 11 12 ...33 Katja hatte sich gemeldet: „Wir finden alle, dass es ungerecht war, was gestern mit Ahmed passiert ist. Wir wissen ganz genau, dass Herr Kraft ständig an ihm rumnörgelt und wir wissen auch, dass er etwas gegen Ausländer hat!“
Nun musste ich wohl wieder eingreifen, weil das Gespräch abermals in Richtung Kritik an einem Lehrer abdriftete. Genau das aber wollte ich unbedingt verhindern:
„Passt mal bitte auf! Ihr redet schon wieder schlecht über Herrn Kraft. Das kann und darf ich nicht zulassen, will es auch nicht! Wenn wir darüber sprechen, dann nur über den Fall und meinetwegen auch über das Verhalten von Ahmed. Ihr habt vielleicht Recht, dass Ahmed wirklich nur einen Scherz machen wollte und Herr Kraft das nicht richtig verstanden hat. Jedenfalls fühlte Herr Kraft sich bedroht, und das können wir Lehrer uns natürlich nicht gefallen lassen! Und nur deshalb wurde eine Ordnungsmaßnahme ausgesprochen, die den Schulbetrieb hier in ordentlicher Form gewährleisten soll. Für Ahmed ist das eigentlich überhaupt nicht so schlimm. Denn wenn er sich bis zum Schuljahresende ordentlich verhält und nicht mehr unangenehm auffällt, dann passiert ihm überhaupt nichts. Ich denke, das kann er doch sehr gut. Und deshalb müsst ihr euch auch eigentlich nicht darüber aufregen, denn auch wenn es Unrecht war, so hat Ahmed keine Nachteile davon. Voraussetzung ist natürlich, dass er sich wirklich zusammenreißt. Er sollte auch keinerlei Schlägereien mehr beginnen. Wenn er wirklich von Mitschülern angegriffen wird, soll er sich ausnahmsweise zurückziehen oder an einen Lehrer wenden, wenn einer in der Nähe ist. Sagt ihm das bitte! So, nun hoffe ich, dass wir ordentlich weiter arbeiten können!“
Nur Melanie äußerte danach noch, dass Herr Kraft schon Möglichkeiten finden würde, um Ahmed weiter zu provozieren, bis er sein Ziel erreicht hätte und Ahmed tatsächlich von der Schule flöge. Mahmud glaubte nicht, dass Ahmed ganz ohne Prügelei auskäme bis zu den Ferien. Und dann wäre er automatisch dran, auch wenn er selber gar nicht die Schlägerei begonnen hätte.
So ganz motiviert wie sonst waren sie danach zwar immer noch nicht bei der Sache, aber wenigstens kamen wir zu einer einigermaßen vernünftigen Konstruktionsbeschreibung und erarbeiteten eine Aufstellung von Regeln, wie eine solche aufgebaut werden konnte.
Nach den beiden Deutschstunden musste ich wieder hinüber in das andere Gebäude, um dort im siebten Schuljahr Religionsunterricht zu erteilen. Frau Kern begleitete mich. Fröhlich grüßten mich ständig Kinder, die ebenfalls pendelten, mit den Worten: „Guten Morgen, Herr Fiori!“
Immer erwiderte ich den Gruß und fügte sofort die Mahnung an, dass ich doch nicht alleine sei, sie möchten wohl auch bitte Frau Kern grüßen. Manche entschuldigten sich und riefen: „Guten Morgen, Frau Kern!“ Andere murmelten nur etwas, und einige verzogen das Gesicht, sagten aber nichts. Ich verstand Frau Kern in dieser Hinsicht nicht. Sie war regelrecht beleidigt, dass die Kinder sie nicht grüßten, machte aber überhaupt keine Anstalten, diesen Zustand so oder so zu ändern. Ich wollte ihr, der fast Gleichaltrigen, auch keine Lehre erteilen. Immerhin war sie ja auch meine Vorgesetzte.
Wenn Schulleiter auch immer betonten, sie seien nur „Primus inter Pares“, so war sie jedoch in vieler Hinsicht weisungsbefugt. Trotzdem sagte ich aber, dass man Kinder nur dann zur Höflichkeit brächte, wenn man mit gutem Beispiel voranginge. Ich jedenfalls hätte nie Probleme damit gehabt, die Kinder auch zuerst zu grüßen. Die Folge dieser Angewohnheit war nun, dass jetzt die Kinder immer mich zuerst grüßten und das besonders freundlich. Frau Kern meinte, das läge vielleicht auch ein wenig an meiner Art, mich bei Kindern beliebt zu machen.
Das saß wieder einmal. Ich fand es eigentlich unverschämt, dass immer wieder Kolleginnen oder Kollegen Anspielungen machten, ich sei besonders schülerfreundlich und würde oft Dinge zulassen, die eigentlich verboten wären. Genau das empfand ich selbst nicht so. Ich dachte von mir, dass ich der strengste Lehrer an dieser Schule wäre. Denn ich hatte oft das Gefühl, dass ich die Kinder mit meinen hohen Anforderungen bis an den Rand ihrer Möglichkeiten brachte.
Hatte ich doch zum Beispiel fünf Jahre zuvor gegen den Willen der Fachkonferenz Deutsch durchgesetzt, dass meine Klasse 10 B die „Judenbuche“ von Annette von Droste Hülshoff gelesen und interpretiert hatte, obwohl eine Kollegin ganz besonders energisch dagegen protestiert hatte mit den Argumenten, damit seien unsere Schüler an der Hauptschule hoffnungslos überfordert.
Sie selbst hätte schon während ihrer eigenen Schulzeit unter dieser Lektüre gelitten, aber sie wäre ja auf dem Gymnasium gewesen. Schüler einer Hauptschule wären aber sicher nicht in der Lage, ordentlich an dieser Literatur mitzuarbeiten, würden auch den Text wohl keinesfalls verstehen, erst recht nicht interpretieren können.
Genau mit diesen Argumenten hatte ich dann meine Klasse motiviert, gerade diese Lektüre auf eigene Kosten anzuschaffen. Denn das wollte niemand von ihnen auf sich sitzen lassen, dass sie etwas nicht könnten, was zum Beispiel Schüler eines Gymnasiums ohne Probleme fertig brächten. Auch meinten sie nicht, dass sie durch irgendeinen Unterricht überfordert werden würden. Sie hatten schließlich von mir selbst gelernt, dass es eigentlich überhaupt nichts gäbe, was ein Mensch nicht könne, wenn er nur wolle.
Andererseits brachte ich schon eine Menge Verständnis dafür auf, was Schüler hindern könnte, ordentlich in der Schule mitzuarbeiten. Wir machten dann oft länger oder arbeiteten die Probleme auf. Dabei durfte auch der eine oder andere Scherz nicht fehlen. Denn ohne ein wenig Freude oder eine lustige Pause konnte einfach eine schwierige Aufgabe nicht bewältigt werden. Meiner Meinung nach war ich wegen meines Humors bei den Schülern so beliebt und nicht etwa deshalb, weil ich fünfe gerade sein ließ, wie mir oft vorgeworfen wurde.
Aber wir wollten nicht darüber streiten. Dann kam sie mit einem Anliegen heraus, was mir ein wenig Kopfschmerzen verursachte. Mit ihrer leisen Stimme raunte sie:
„Herr Fiori, ich habe eine Bitte, dass Sie sich in ihrer Eigenschaft als Beratungslehrer einmal mit Herrn Kraft unterhalten. Ich bin der Meinung, dass er wirklich Probleme hat im Umgang mit den Schülern. Zu oft ruft er nach der Polizei. Ich möchte das nicht, dass ständig nach außen getragen wird, wenn hier in der Schule mal etwas nicht so läuft, wie wir uns das wünschen. Würden Sie das wohl tun bei irgendeiner sich ergebenden Gelegenheit?“
Das war genau die Art, wie ich als Beratungslehrer nicht agieren sollte und es auch bestimmt nicht wollte. Wenn jemand das Bedürfnis hatte, sich mit mir über seine Probleme zu unterhalten, sollte grundsätzlich die Initiative von ihm aus gehen. Denn meine Tätigkeit als Beratungslehrer setzte voraus, dass ich seine Probleme anhörte und mich auf seine Auffassung einstellte und mich auch auf seine Seite stellte und seine Nöte verstehen würde.
Das hieß, dass ich grundsätzlich mich seiner Probleme positiv annehmen musste, um dann im Gespräch zu klären, welche Möglichkeiten er selbst finden konnte, diese Probleme zu lösen. Nur wenn der Ratsuchende selbst keine Möglichkeit sah, dann sollte ich kraft der Vernetzung der Beratung ihm eine möglichst kompetente Hilfe nennen und vielleicht auch die Verbindung dorthin aufnehmen. Und genau dieses Prinzip wurde natürlich durchbrochen, wenn ich die Initiative ergreifen musste. Dann war ich es nämlich, der im Grunde ein Problem hatte.
Trotzdem versprach ich Frau Kern, dass ich Herrn Kraft ansprechen wollte.
Inzwischen hatten wir unser Ziel erreicht und begaben uns in unsere Unterrichtsräume. Denn Frau Kern musste nicht in ihr Büro sondern ebenfalls sofort in den Unterricht.
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