Und die Häuser ringsum, rechts und links, geradeüber und schräg drüben waren alle genau ebenso vornehm und hochherrschaftlich. Da war keins, das nicht einen Giebel gehabt hätte, keins ohne Erker und ohne spitzige Türmchen und Dachreiter. Etwelche waren ganz aus roten Ziegelsteinen aufgeführt, wie nordische Kirchen; und andere daneben schienen wieder nur aus Orgelpfeifen zusammengebunden zu sein. Und die Eckhäuser bekrönten stolze, hohe, vielseitig gerundete Kuppeln, Riesentintenfässer mit reichlichem Gold. Oder riesige Fußbälle lagen da plötzlich auf dem Dach. So vornehm und hochherrschaftlich war die Straße. Und sie hatte etwa keine Gasbeleuchtung mehr, sondern hoch oben, an scharfgespannten Drähten, schwebten die riesigen Calvillen der Bogenlampen, mitten über dem Damm, hoch über dem niederen Netzwerk der Straßenbahnleitungen, ja fast über den vier Reihen von Ulmen und Linden, die, immer, immer kleiner werdend, rechts und links, soweit man nur sehen konnte, sich die Straße hinabzogen. Des Abends, da war das, wenn man auf der Mitte des Damms stand, wie eine einzige, lange, leicht gekrümmte Kette von Perlen, die zuerst in rechter Entfernung voneinander an der unsichtbaren Schnur hingen, und die dann immer enger und enger zusammenrückten, um in einen langen, leuchtenden Schweif auszulaufen. Auf dem Bürgersteig aber zeichneten sich im Winter und im ersten Frühjahr ganz fein, scharf und genau, die Schatten aller Äste, Zweige und Zweiglein ab. Später, im Frühling, Sommer und Herbst aber, wenn das Laub an den Bäumen war, ging man hier des Abends in einem schönen, mattgrünen Halblicht dahin, das sich nach den Häusern und Torwegen, sobald die Läden geschlossen waren und ihr Licht eingestellt hatten, in ein für die dort plaudernden Paare höchst angenehmes und schützendes Dunkel verwandelte.
Wer sollte zweifeln, daß es eine hochherrschaftliche Straße war? Und wahrlich, – wer jetzt die beiden Möbelwagen gesehen hätte, die da im hellen Licht der Sonne, wahre Riesen ihres Geschlechtes und grün wie der schönste Maientag, in allen Fugen knarrend heranschwankten, einer hinter dem andern, ganz langsam und gemächlich, Schritt vor Schritt, und die, als die Stärkeren, der Straßenbahn nicht auswichen, so sehr ihr Führer auch klingeln mochte, die sich von den Schienen nicht rückten und rührten, bevor sie nach dem Hause herüberschwenkten, das der ›gemütliche Schlesier‹ hinter sich gelassen hatte ... wer das gesehen hätte, der hätte auch keinen Augenblick mehr gezweifelt, daß hier vornehme Leute wohnen. Die kleine Fuhre des Herrn Piesecke, des neuen Vizewirts, und seiner Gattin mit den Betten, dem Muschelschrank, dem Spiegel mit dem vergoldeten Papierrahmen, dem Küchenspind und dem Regulator, – die verschwand ordentlich dahinter. Die kam vor den beiden Möbelwagen gar nicht mehr in Betracht; die wurde einfach übersehen. Und Herr und Frau Piesecke hatten ihre paar Sachen schon lange in der Portierloge, als die Ziehleute noch nicht vom Frühstück gekommen waren. Denn da zu ihrer großen Enttäuschung der ›gemütliche Schlesier‹ eben ausgeflogen war, so sahen sie sich leider genötigt, eine Nebenstraße weiter zu gehen, und sie ließen nur einen Mann, klein und breit und dickköpfig wie ein Gnom, bei den Pferden zur Deckung zurück, mit dem Herr Löwenberg eine längere Unterhaltung hatte.
»Wo sind denn die Leute?« sagte Herr Löwenberg und rückte seinen Zylinder ins Genick. Denn seitdem er vor drei Jahren einmal geschäftlich auf vierzehn Tage in London gewesen, trug er nur noch Zylinder.
»Aas!« sagte der Mann und gab, ohne sich stören zu lassen, dem Handpferd einen Knuff in die Weichen, daß der alte Schimmel nur so mit den Hufen gegen die Deichsel ballerte.
»Wo die Leute sind!« rief Herr Löwenberg und zupfte seinen Zylinder tief in die Stirn.
»Hä? Sie missen lauter mit mir reden, ich bin nämlich 'n bißchen taub auf de Ohren«, sagte der Mann und sah Herrn Löwenberg freundlich auf den Mund.
»Wo – die – Leute – sind!?!« brüllte Herr Löwenberg, daß man es bis Schmargendorf hören konnte.
»Ach so, des meinen Se! Wo soll'n se denn sin? Die frihsticken! Sie sind man eben jejangen. Det kann 'ne ganze Weile dauern, bis se wiederkommen«, sagte der Mann und machte sich wieder mit seinem Schimmel zu schaffen, der in einem Anflug von Menschlichkeit seinen Nachbar um jeden Preis vom Futtertrog wegzubeißen versuchte.
Und der Mann sollte recht behalten. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie zurückkehrten.
Herr Löwenberg aber ging indessen immer vor seinen beiden Möbelwagen auf und nieder, damit sie ihm nicht abhanden kämen, und klopfte dazu mit seinem Spazierstock aufs Pflaster. Und er betrachtete nicht ohne Wohlgefallen die helle, lange Straße, die doch ganz etwas anderes war und weit vornehmer als die Neue Roßstraße, in der er bisher gewohnt hatte. Und Frau Betty Löwenberg erschien oben auf dem Balkon, im braunen Pelzhut mit lederfarbenen Rosen, beugte sich über das goldene Gitterchen und schrie herunter:
»Max, sieh doch mal, daß die Ziehleute bald anfangen!'''
Aber Herr Piesecke, der neue Vizewirt, hatte gerade noch Zeit, in Ruhe die roten Läufer bis zum ersten Stock von den Stufen abzurollen und die Ampeln im Vestibül und im Treppenhaus beiseite zu binden, damit sie nicht beschädigt würden – er konnte noch den Torweg recht breit und weit aufsperren, damit auch das Büfett gut durchginge – ehe die Ziehleute so ganz langsam zu zweien und dreien angetrottet kamen.
Dann aber, ehe man es sich versah, ging die rechte Freude los. Alles lief und rief durcheinander.
»Nicht kanten, Willem! Wirste nich kanten, oller Dussel!« »Oogenblick, Ede, ick will mir bloß 'n Gurt unterziehn!« »Na heer mal, nimm mir doch hier mal eener ab.« »Kiek mal, die Mebel sind alle nach Zeichnung!« »Herr Löwenberg, wo soll'n det Spind hin? In'n Keller? Na, det müssen se eenem doch sagen, det det Spinde in'n Keller soll. Wenn't Schweinebraten wär, hätten wer't ja jerochen!«
Hier zogen zwei Riesen langsam und keuchend mit einer schweren eichenen Kredenz ab, und hier ging ein ganz kleiner Kerl mit drei Stühlen und einem Blumentisch in den Torweg, während ihm noch an ein paar Fingern der linken Hand ein Eimer mit Küchengeschirr pendelte, – und er ging mit alledem so ruhig wie ein Saumtier.
Und alles, ein Stück nach dem anderen, kam auf die Straße und durfte sich sonnen: das Schlafzimmer im Biedermeierstil, in hell Ahorn, mit seinen Betten mit den schwarzen Kränzchen am Kopfende und den schwarzen Köpfchen am Fußende – es war ein Jüngling mit Vatermördern und eine Dame mit Schute und Löckchen – das Schlafzimmer kam zuerst. Und der Toilettentisch mit violetter Seide bespannt kam. Und der Rahmen mit dem gemalten Gobelin, mit den beiden Amoretten, die selig in Wolken schwärmten, er, der sonst erst beide Betten zu einer schönen Einheit zusammenfügte, er trennte sich auch hier nicht von ihnen. Und dann kamen erst die einzelnen Söller, Zinnen, Forts und Türme des Büfetts – das in seiner Vollendung wie eine richtige Ritterburg aussah, – ehe der mächtige Leib, das Hauptkastell, sich aus dem schweren Bauch der Riesenwagen nachschob. Das romanische Herrenzimmer trottete gewichtig hinterher, mit seiner Bibliothek und seiner Zeitschriftentruhe, die zugleich als Bank diente – und die wohl vor allem als Bank diente. Denn niemals in seinem sechsunddreißigjährigen Leben hatte Herr Max Löwenberg bisher eine Zeitschrift gehalten. Der Kirschholz-Salon im Jugendstil kam fürder hinterher getänzelt, in die Sonne hinaus, mit seinem Sofaumbau und dem Eckarrangement. Fein, zierlich und gebrechlich und im ganz modernen Geschmack. Das heißt – als Herr Löwenberg ihn vor fünf Jahren kaufte, hatte der Möbelhändler geschworen, daß es reinster Jugendstil wäre, während alle seine Freunde, – die von der Branche etwas verstanden – später behaupteten, daß es weit eher Sezession als Jugendstil sei.
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