Als aber Herr Ziedorn und Herr Max Löwenberg ihre Zylinder jetzt unbeschädigt durch die Tür gebracht hatten und es still im Raum geworden war, da fragte Emil Kubinke ganz leise: »Wo jeht'n der Chef hin, Herr Tesch?«
Aber Herr Tesch kniff nur das eine Auge ein. »Na, seine Olle wird ihm ja wieder 'n netten Transch machen. Passen Se mal morjen uff«, flüsterte er.
Herr Ziedorn führte ein mit dunklen Punkten reich verziertes Leben; – und zu dem Kundenkreise des Herrn Ziedorn gehörten auch Damen, durchaus keine Damen zweifelhaften Rufes, im Gegenteil, sie hatten einen völlig zweifellosen Ruf, es waren höchst achtungsbedürftige Damen, und sie wohnten hier in einer Nebenstraße, Haus bei Haus, in kleinen, gut möblierten Gartenwohnungen. Und sie fuhren sogar jeden Abend mit der Droschke in das Innere der Stadt hinein und fuhren spät nach Mitternacht mit der Droschke wieder heim. Und diese Damen nahmen auf Kredit aus dem Laden des Herrn Ziedorn Parfüms und Seifen, Puder und Schminken, Haarfärbemittel und falsche Locken, und was sie sonst noch benötigten, um aus einem grauen, armseligen, abgegriffenen und abgematteten Hascherl jenes Wesen hervorzuzaubern, das die Männer entflammen sollte. Und diese Damen vergaßen meist zu zahlen. Und dann ging Herr Ziedorn am nächsten Ersten hin und mahnte sie. Oder bei größeren Summen ließ er es nicht bei der einmaligen Mahnung bewenden. Und mit der Zeit hatte sich zwischen Herrn Ziedorn und seinen Kundinnen jene primitive Form des Handels herausgebildet, die noch heute bei allen Urvölkern gang und gäbe ist und die nationalökonomisch als Tauschverkehr bezeichnet wird. Aber Frau Ziedorn sah das nicht gern, und sie hatte ihren Gatten oft gebeten, er solle doch diese Kundschaft aufgeben. Ja, sie befleißigte sich sogar, wenn sie gerade im Laden war, dieser Sorte von Kundinnen gegenüber einer außerordentlich geringen Freundlichkeit. Herr Ziedorn jedoch erklärte ihr immer und immer wieder, daß von Aufgeben nicht die Rede sein könnte und daß er, wenn er endlich auch nur die Hälfte bezahlt bekäme, durch den hohen Verdienst, der bei diesen Artikeln hängen bliebe, immer noch auf seine Rechnung käme. Und damit hatte Herr Edmund Ziedorn eigentlich auch ganz recht . Und wer von dem Einmaleins des Kaufmanns auch nur das Geringste versteht, muß ihm beipflichten.
Und Frau Ziedorn fand auch leider nie ausreichende Gelegenheit, um diese Sorte von Kundinnen endgültig fernzuhalten, ... da sie sich, mit geringen Unterbrechungen, jahraus, jahrein in jenem Zustand befand, vor dem zwar im alten Sparta die Soldaten durch Senken des Speeres ihre Ehrerbietung zu zeigen hatten, den man aber im modernen Berlin in einem vornehmen Friseurladen vor den Kunden nicht gern öffentlich zur Schau stellt.
Und so also war am 1. April 1908, nachmittags um vier Uhr, Herr Ziedorn wieder einmal Rechnungen einkassieren gegangen.
Und als Frau Ziedorn mit ihrer Körperfülle hereingerollt kam, da begrüßte sie gar nicht den neuen Gehilfen Emil Kubinke, sondern fragte nur: »Wo ist mein Mann, Herr Tesch?«
»Er kassiert Rechnungen ein«, sagte Herr Tesch, ernst wie das Grab. »Vor Abend, hat er jesagt, kann er kaum wiederkommen.«
»So!« sagte Frau Ziedorn. Sonst nichts. Und warf die Tür hinter sich zu, daß der kleine Junge, den Emil Kubinke immer noch unter seinen Fingern hatte, beinahe von seinem hohen Stuhle fiel. Und dann hörte man draußen bums! bums! bums! bums! eine reine Kanonade von zugeschlagenen Türen.
Und der Nachmittag ging Emil Kubinke hin, als wenn die Stunden Flügel hätten. Hier gab's doch Arbeit, und man mußte sich nicht alle halbe Stunden wieder mühsam vom Stuhl emporreißen, wenn ein Kunde in den Laden trat, wie das bei seinem alten Chef war. Und jeder der Leute hatte hier seine Eigenart, die ihm erst abgeluchst werden mußte. Der wünschte, daß man ihn unterhielt, und der war beleidigt, wenn man an ihn das Wort richtete. Der war wie ein rohes Ei so verletzlich, und der andere robust wie kaltes Eisen. Herr Graff mußte beim Namen genannt werden; aber bei Herrn Levysohn war die Namensnennung verpönt. Herr Tesch kannte jeden und verstand ihn zu nehmen. Und er wußte Emil Kubinke oft mit einem Augenzwinkern zu verständigen, was zu tun und was zu lassen sei. Ja, das Geschäft hier! Solch ein Geschäft hätte Emil Kubinke auch mal haben mögen.
Und während nun draußen die ganze Straße sich mit einem roten Halblicht füllte, während das Abendlicht einen schönen Tag für morgen versprach und der Himmel im Zenit zwischen den dunklen Häusern ganz weiß, gelb und rosig leuchtete und sein magisches Licht über allem schwebte, während alles so seltsam hell war, wie scheinbar am ganzen Tag noch nicht, nur um langsam zu verglühen und zu verlöschen ... und während wie mit einem Schlag alle Bogenlampen spangrün aufleuchteten und, ohne noch ihr Licht zu versenden, nur in sich glühten und gleich riesigen, spangrünen, japanischen Ballons da oben in einer langen Kette hingen, ... und während unten im Schaufenster im Laden Emil Kubinke die kleinen rötlichen Grätzinkugeln aufblitzen ließ ... währenddessen ... ja ... da turnte oben bei Herrn Max Löwenberg der Tapezierer auf der Leiter herum und machte die kühnsten Draperien, Überwürfe und Raffungen. Er schwelgte ordentlich in Stoff und Falten, und er zog unermüdlich aus seinem Mund kleine blaue Nägel hervor, mit denen er den flüchtigen Gebilden seiner kunstfertigen Hand Dauer verlieh. Und auf einer anderen Stehleiter, hinter dem Tapezierer, voltigierte der Monteur mit klirrenden Kristallkronen; – während aus der Küche die Hammerschläge der Arbeiter kamen, die den Gasometer setzten, und aus dem Schlafzimmer das Lötfeuer der Wasserarbeiter, die den Waschtisch anschlossen, sein Brodeln und seine Zischlaute durch die ganze Wohnung schickte. Die schnell herbeigezogene Frau Piesecke rutschte zwischen all denen auf den Knien herum und scheuerte die Fußböden. Frau Löwenberg aber briet mitten auf dem Eßtisch, auf einem Patentkocher, für ihren Mann Setzeier; – die einzige lebende Erinnerung, die ihr aus dem Kochkursus in der Pension von Fräulein Beate Bamberger geblieben war. Denn Herr Löwenberg mußte sich unbedingt stärken. Seit drei Stunden ging er nämlich von einem Zimmer ins andere, stand den Arbeitern im Wege, stolperte über Frau Piesecke, war überall da, wo man ihn nicht brauchen konnte, und erklärte unausgesetzt den Leuten, wie sie es zu machen hätten.
Man wird sich vielleicht wundern, daß so reiche Leute wie Löwenbergs kein Dienstmädchen haben. Aber die alte Köchin war gerade während des Umzugs zu ihrer todkranken Mutter gerufen worden, die, – um der Wahrheit die Ehre zu geben, – nicht nur todkrank , sondern schon seit vierzehn Jahren tot war, aber trotzdem jedes Jahr noch zweimal von heftigen und geradezu lebensvernichtenden Leibesübeln befallen wurde, die die alte Frau doch immer wieder mit einer bewunderungswürdigen Zähigkeit überstand. Und das Hausmädchen hatte Frau Löwenberg Knall und Fall entlassen müssen, weil sie sich nicht entblödet hatte, ihrem Gemahl nachzustellen. Das neue Mädchen aber kam vor heute abend nicht. Und so erzählte Frau Löwenberg nun schon seit fünf Tagen jedem, der es hören und nicht hören wollte, daß sie ohne Mädchen wie im Himmel wäre. In Wahrheit aber verstand Frau Löwenberg von der Wirtschaft so viel wie ein Kuhkalb von der Trigonometrie und war vollkommen rat- und hilflos, war einem Schiff mit gebrochenem Steuer im wilden Sturm vergleichbar. Wirklich, Frau Betty Löwenberg war in allen Dingen des Lebens von einer nicht mehr rührenden, sondern schon mehr beängstigenden Ahnungslosigkeit. Ja, wenn man Frau Betty Löwenberg länger kannte, so mußte man sich immer wieder und wieder fragen, was sie denn überhaupt in den siebenundzwanzig Jahren ihrer bewußten Anwesenheit auf der Weltenbühne bisher gelernt hatte!
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