1 ...6 7 8 10 11 12 ...23 »Natürlich brauchen wir einen. Das Werk stand doch heute still, weil Stankowitsch krank geworden ist. Unser Chef ist zweimal gegangen, um Ersatz zu finden, aber vergebens. Er wollte nicht riskieren, das Werk mit nur einem Heizer in Gang zu setzen.«
»Na also, dann ist die Sache schon so gut wie gemacht«, sagte der Unbekannte.
»Ich hole dich morgen früh ab und gehe mit dir zusammen hin«, wendet er sich an Pawel.
»Schön.«
Pawels Blick begegnet den ruhigen grauen Augen des Unbekannten, die ihn aufmerksam mustern. Der feste, unverwandte Blick verwirrt Pawel ein wenig. Die von oben bis unten zugeknöpfte graue Jacke spannt etwas über dem breiten Rücken. Schultern und Kopf sind durch einen kräftigen Nacken verbunden, und der ganze Mensch strotzt vor Kraft wie eine alte knorrige Eiche. Beim Abschied sagt Artjom:
»Einstweilen alles Gute, Shuchrai. Morgen gehst du mit meinem Bruder hin und regelst die Sache.«
Die Deutschen marschierten drei Tage nach dem Abzug der Rotgardisten in die Stadt ein. Das Pfeifen der Lokomotive auf dem in den letzten Tagen verwaisten Bahnhof verkündete ihre Ankunft. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht im Städtchen:
»Die Deutschen sind da!«
Und obwohl alle längst wussten, dass die Deutschen kommen würden, glich die Stadt in diesem Augenblick einem aufgescheuchten Ameisenhaufen. Man hatte doch nicht so recht daran glauben wollen. Und jetzt waren sie plötzlich da, diese schrecklichen Deutschen. Sie waren nicht mehr irgendwo im Anmarsch, sondern schon mitten in der Stadt.
Die Einwohner standen alle hinter ihren Gartenzäunen oder an den Pforten. Auf die Straße trauten sie sich nicht hinaus.
Die Deutschen, in ihren dunkelgrünen Uniformen, marschierten mit gefälltem Bajonett zu beiden Seiten der Chaussee, die Mitte frei lassend. Die Bajonette waren breit wie Messer. Auf dem Kopf trugen die Soldaten schwere Stahlhelme und auf dem Rücken mächtige Tornister. In langer, ununterbrochener Reihe marschierten sie vom Bahnhof zur Stadt, stets auf der Hut, jederzeit zur Abwehr bereit, obwohl kein Mensch daran dachte, ihnen Widerstand zu leisten.
Den Gruppen voran marschierten zwei Offiziere, Mauserpistolen in den Händen. In der Mitte der Chaussee schritt ein Hetmanfeldwebel in blauem ukrainischem Überrock und mit Tscherkessenmütze; er war der Dolmetscher.
Die Deutschen nahmen auf dem Platz im Zentrum der Stadt in einem Viereck Aufstellung. Die Trommel wurde geschlagen. Eine kleine Gruppe etwas dreister gewordener Einwohner hatte sich angesammelt. Der Hetmanfeldwebel stieg auf die Vortreppe der Apotheke und verlas mit lauter Stimme den Befehl des Kommandanten, Major Korff:
Ich befehle:
§1 Alle Bürger der Stadt haben binnen 24 Stunden die in ihrem Besitz befindlichen Schuss- und Hiebwaffen abzuliefern. Nichteinhaltung dieses Befehls wird mit dem Tode durch Erschießen bestraft.
§ 2 Über die Stadt wird der Belagerungszustand verhängt. Nach acht Uhr abends
ist das Verlassen der Wohnung verboten.
DER STADTKOMMANDANT MAJOR KORFF
In dem Gebäude der früheren Stadtverwaltung, wo nach der Revolution der Rat der Arbeiterdeputierten seinen Sitz gehabt hatte, richtete sich die deutsche Militärkommandantur ein. Vor dem Eingang stand ein Posten, der keinen Stahlhelm, sondern eine Pickelhaube mit dem riesigen kaiserlichen Adler trug. Im Hof befand sich die Waffenablieferungsstelle.
Durch die angedrohte Erschießung erschreckt, schleppte die Bevölkerung den ganzen Tag Waffen herbei. Erwachsene ließen sich nicht blicken. Kinder und Halbwüchsige lieferten die Waffen ab. Die Deutschen nahmen niemanden fest. Wer die Waffen nicht bis zur Sammelstelle tragen wollte, warf sie einfach in der Nacht auf die Straße. Am Morgen sammelte eine deutsche Patrouille die Waffen auf, packte sie auf einen Wagen und schaffte sie zur Kommandantur.
Um ein Uhr mittags, nach Ablauf der Ablieferungsfrist, zählten die deutschen Soldaten ihre Trophäen. Es waren insgesamt vierzehntausend Gewehre abgeliefert worden, sechstausend Gewehre blieben somit in den Händen der Bevölkerung. Die daraufhin vorgenommenen allgemeinen Haussuchungen hatten nur ganz magere Ergebnisse.
Im Morgengrauen des darauf folgenden Tages wurden hinter der Stadt beim alten jüdischen Friedhof zwei Eisenbahnarbeiter erschossen, bei denen während der Haussuchung Gewehre gefunden worden waren.
Sofort nach Bekanntgabe des Befehls war Artjom nach Hause gerannt. Im Hof begegnete er Pawel. Er packte ihn an der Schulter und fragte mit leiser, jedoch eindringlicher Stimme:
»Hast du etwas von dem Lager nach Hause gebracht?«
Pawel wollte erst die Sache mit dem Gewehr verschweigen, doch widerstrebte es ihm, den Bruder zu belügen, und so erzählte er ihm alles.
Sie gingen miteinander zum Schuppen. Artjom holte das Gewehr hinter dem Dachbalken hervor, entfernte den Verschluss und das Bajonett, packte dann das Gewehr am Lauf und schlug es mit aller Kraft gegen einen Zaunpfosten. Der Kolben brach in Stücke. Die Reste des Gewehrs warf Artjom auf einen unbebauten Platz weit hinter dem Garten. Das Bajonett und den Verschluss versenkte er in die Abortgrube.
Als er mit allem fertig war, wandte sich Artjom an seinen Bruder und sagte:
»Du bist kein Kind mehr, Pawka, du verstehst, dass Waffen kein Spielzeug sind. Ich warne dich ganz ernstlich: Schlepp nichts mehr ins Haus. Du weißt doch, dass es einem jetzt das Leben kosten kann. Sei vernünftig, und dass du mich nicht hinters Licht führst. Denn wenn du so was nach Hause bringst und man findet es, werde ich als erster erschossen. Dich Rotznase wird keiner anrühren. Es sind jetzt verfluchte Zeiten. Verstanden?«
Pawel gab dem Bruder das Versprechen, nichts mehr nach Hause zu bringen.
Als die beiden über den Hof gingen, hielt gerade eine Kutsche vor dem Tor des Leszczynskischen Hauses an. Ihr entstieg der Rechtsanwalt mit seiner Frau und den Kindern - Nelly und Viktor.
»Ja, ja, jetzt kommen sie wieder angeflogen, die Vögelchen«, brummte Artjom erbittert.
»Nun wird es heiter hergehen, hol alles der Teufel!« Und er ging ins Haus.
Pawel trauerte den ganzen Tag seinem Gewehr nach. Zur selben Zeit mühte sich sein Freund Serjosha im Schweiße seines Angesichts ab, mit dem Spaten in einem alten verlassenen Schuppen an der Wand eine Grube auszuheben. Endlich war sie tief genug, und Serjosha legte drei nagelneue, in Lappen eingewickelte Gewehre hinein, die er bei der Verteilung erbeutet hatte. Es fiel ihm gar nicht ein, sie den Deutschen abzuliefern. Dazu hatte er sich nicht eine ganze Nacht lang geplagt, dass er sich jetzt von seiner Beute trennen sollte.
Als er die Grube wieder zugeschüttet hatte, stampfte er die Erde sorgfältig fest und schleppte dann Müll und altes Gerumpel auf die eingeebnete Stelle; darauf betrachtete er kritisch das Ergebnis seiner Arbeit und fand es befriedigend.
Jetzt mögen sie ruhig suchen, dachte er, und wenn sie was finden, so wissen sie noch lange nicht, wem der Schuppen gehört.
Unmerklich schloss sich Pawel immer enger dem rauen Monteur an, der bereits seit einem Monat im Elektrizitätswerk arbeitete.
Shuchrai erklärte seinem Hilfsheizer die Konstruktion eines Dynamos und lernte ihn an.
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