Es klopfte. Walja schaute auf.
»Wer ist da?« fragte sie und schob den Riegel zurück. In der geöffneten Tür erschien der rothaarige Wuschelkopf Klimkas. Es war ihm anzusehen, dass er gerannt war, er war völlig außer Atem und puterrot im Gesicht.
»Ist deine Mutter zu Hause?« erkundigte er sich bei Walja.
»Nein, sie ist weggegangen.«
»Wohin denn?«
»Ich glaube, zu Kortschagins.«
Klimka wollte davoneilen, doch Walja hielt ihn mit aller Kraft am Ärmel fest.
Unentschlossen blickte er das Mädchen an.
»Ja, weißt du, ich hab mit ihr zu sprechen, muss ihr etwas übergeben.«
»Was musst du übergeben?« bestürmte Walja den Jungen. »Erzähl doch, was los ist, du rothaariger Zottelbär, sprich doch! Du zerrst einem ja die Seele aus dem Leib!« sagte das Mädchen zu ihm in gebieterischem Ton.
Klimka vergaß alle Warnungen, vergaß den strengen Befehl Shuchrais, den Zettel nur Antonina Wassiljewna persönlich zu übergeben und zog einen verschmierten Papierfetzen aus der Tasche. Er konnte es Serjoshas blonder Schwester einfach nicht abschlagen, obwohl sich der rothaarige Klimka über seine Gefühle für sie nicht ganz im klaren war. Freilich hätte es der bescheidene Küchenjunge niemandem und sogar sich selbst nicht eingestanden, dass Walja ihm gefiel.
Er gab ihr den Zettel, den sie schnell überflog.
Liebe Tonja! Mach Dir meinetwegen keine Sorgen. Alles in bester Ordnung. Wir sind heil und unversehrt. Bald wirst du Weiteres erfahren. Teile auch den anderen mit, dass es uns gut geht und dass sie sich nicht beunruhigen sollen. Diesen Zettel vernichte.
Sachar.
Als Walja die Zeilen gelesen hatte, stürzte sie auf Klimka zu.
»Woher hast du den Zettel? Sag, woher du ihn hast, du Tollpatsch, du!« Sie ließ dem verwirrt dastehenden Klimka keine Ruhe, so dass dieser, ehe er sich's versah, schon die zweite Dummheit beging:
»Den hat mir Shuchrai auf der Station gegeben.« Und da es ihm einfiel, dass er nicht darüber sprechen durfte, fügte er hinzu: »Er hat mir aber streng verboten, mit jemandem darüber zu sprechen.«
»Lass schon gut sein.« Walja lachte. »Ich werde dich nicht verpetzen. Aber jetzt lauf, du Rotkopf, so schnell du nur kannst, zu Pawel. Dort wirst du auch die Mutter finden.« Mit diesen Worten gab sie dem Küchenjungen einen freundschaftlichen Schubs in den Rücken, und in der nächsten Sekunde war Klimkas roter Schopf bereits hinter der Gartenpforte verschwunden.
Am Abend kam Shuchrai zu Kortschagins und berichtete Maria Jakowlewna von den Vorgängen auf der Lokomotive. Er beruhigte die erschrockene Frau, so gut er konnte, und teilte ihr mit, dass alle drei weit entfernt, in einem abgelegenen Dorf bei einem Onkel von Brusshak, Unterkunft gefunden hätten und dort in Sicherheit seien. Natürlich könnten sie jetzt nicht nach Hause kommen. Den Deutschen stehe jedoch schon das Wasser bis an den Hals, und es seien in nächster Zukunft Veränderungen zu erwarten.
Diese Begebenheiten trugen dazu bei, dass sich die Familien der drei Verschwundenen eng einander anschlossen. Die spärlich einlaufenden Briefe, die sie bekamen, waren jedes Mal ein freudiges Ereignis, aber in ihren Häusern war es öd und leer geworden.
Eines Tages suchte Shuchrai die alte Frau Politowski auf und gab ihr etwas Geld.
»Hier, Mütterchen, das schickt Euch Euer Mann. Sagt aber niemandem ein Sterbenswörtchen.«
Beglückt drückte ihm die Alte die Hand. »Recht schönen Dank! 's tut bitter not. Die Kinder haben schon fast nichts mehr zu essen.«
Das Geld war dem Fonds entnommen, den Bulgakow dagelassen hatte.
Nun, wir werden mit der Zeit schon sehen, was weiter wird. Obwohl der Streik wegen der angedrohten Todesstrafe abgebrochen werden musste, obwohl wieder gearbeitet wird, brennt doch die Flamme weiter. Man kann sie nicht mehr löschen. Und jene drei sind Prachtkerle, richtige Proleten, dachte der Matrose begeistert, als er von Politowskis zum Depot zurückging.
In einer abseits gelegenen alten Schmiede, die eine ihrer verrußten Wände dem ins Dorf Worobjowa Balka führenden Weg zukehrte, stand Politowski mit einer langen Zange vor der Esse und wendete, in der grellen Glut leicht blinzelnd, ein rotglühendes Eisenstück um.
Artjom drückte den Hebel des ledernen Blasebalgs, der an einem Querbalken angebracht war.
Gutmütig in seinen Bart schmunzelnd, meinte der Lokomotivführer:
»Ein Handwerker braucht jetzt im Dorf nicht zu hungern. Arbeit gibt's mehr als genug. Wir werden hier ein paar Wochen arbeiten und können dann den Unsrigen wenigstens Speck und Mehl schicken. Beim Bauersmann, mein Junge, steht der Schmied immer hoch in Ehren. Wir werden uns hier vollfuttern wie die richtigen Bourgeois, haha. Mit dem Sachar ist's eine andere Sache. Der hält sich mehr ans Bauerngeschäft, arbeitet den ganzen Tag mit seinem Onkel auf dem Feld. Ist ja auch begreiflich. Wir beide haben weder Haus noch Hof, nur unsern Buckel und unsere Hände, wie man so sagt, Proleten auf Lebzeit, haha. Sachar aber steht mit dem einen Fuß auf der Lokomotive, mit dem anderen im Dorf.« - Er packte das glühende Eisenstück mit der Zange und fügte, nun schon ernst und nachdenklich, hinzu: »Aber unsere Sache steht wacklig, Junge. Wenn die Deutschen nicht bald verjagt werden, müssen wir nach Jekaterinoslaw oder nach Rostow hinüber, sonst kriegen sie uns beim Schlafittchen und hängen uns zwischen Himmel und Erde auf. Das steht fest.«
»Stimmt«, brummte Artjom.
»Wie mag's den Unseren daheim gehen, ob sie wohl von diesen Banditen schikaniert werden?«
»Ja, ja, Alter, da haben wir uns was eingebrockt, jetzt heißt's, sich ein bisschen fernhalten von Hause.«
Der Lokomotivführer langte aus der Esse ein glühendes Stück Eisen und legte es rasch auf den Amboss.
»Nun, hau zu, mein Söhnchen!«
Artjom packte den schweren Schmiedehammer, der am Amboss lehnte, schwang ihn hoch über den Kopf und schlug zu. Glühende Funken sprühten empor. Mit leichtem Knistern flogen sie durch die Schmiede und erhellten für eine Sekunde ihre dunkelsten Ecken.
Politowski drehte das glühende Eisen nach allen Seiten, so dass die mächtigen Schläge darauf niederprasselten und das Metall sich wie Wachs formen ließ.
Durch die offene Schmiedetür zog ein warmer Hauch aus der finsteren Nacht.
Dunkel und riesengroß erstreckt sich in der Tiefe der See, umringt von hohen Föhren, deren mächtige Wipfel im Winde schwanken. Hier, einen Kilometer von der Bahn entfernt, waren in den tiefen, verlassenen Gruben der alten Steinbrüche Quellen aufgebrochen und hatten drei Seen gebildet.
Tonja liegt oberhalb des granitnen Ufers auf einer grasbewachsenen Lichtung. Hoch oben, hinter der Lichtung, zieht sich der Wald hin und unten, dicht am Fuß des Abhangs, der See. Die Felsen werfen ihre Schatten über den Rand des Sees und verdunkeln ihn noch mehr. Das ist Tonjas Lieblingswinkel.
Unten, am Ufer des Sees, plätscherte es leise. Tonja hob den Kopf, schob mit der Hand die Zweige auseinander und schaute hinab. Ein elastischer, braungebrannter Körper schwamm mit starken Stößen der Mitte des Sees zu. Tonja konnte den dunklen Rücken und den schwarzen Kopf des Schwimmers sehen. Er schnaubte wie ein Walross, durchschnitt mit kurzen Stößen das Wasser, drehte sich um, schlug Purzelbäume, tauchte, legte sich schließlich ermüdet auf den Rücken, kniff in der prallen Sonne die Augen zu und blieb, die Arme weit ausgebreitet, fast bewegungslos liegen.
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