»Der da muss erledigt werden, verstehst du?«
Artjom zuckte zusammen, Politowski fügte, mit den Zähnen knirschend, hinzu:
»Es gibt keinen anderen Ausweg. Wir machen Schluss mit ihm, werfen den Regulator und die Hebel in die Feuerung, schalten langsamen Gang ein, und dann auf und davon!« Und Artjom antwortete, als wälze er eine schwere Last ab:
»Schön.«
Artjom beugte sich zu Brusshak hin und teilte ihm leise den Beschluss mit.
Brusshak zögerte mit der Antwort. Jeder von ihnen nahm ein großes Risiko auf sich. Sie hatten alle Familie daheim. Politowskis Familie war besonders zahlreich: Neun Mäuler hatte er zu stopfen. Und doch begriff jeder von ihnen, dass diese Fahrt um jeden Preis verhindert werden musste.
»Nun, ich bin einverstanden«, sagte Brusshak.
»Aber wer wird denn den …« Er verschluckte die letzten Worte, Artjom verstand ihn auch so. Artjom wandte sich dem Alten zu, der sich am Regulator zu schaffen machte, und nickte mit dem Kopf, als wollte er ihm zu verstehen geben, dass auch Brusshak einverstanden sei; aber dann trat er, von der noch ungelösten Frage gequält, näher an Politowski heran.
»Wie werden wir das aber anstellen?«
Der Gefragte blickte Artjom an:
»Das übernimmst du, du bist der Stärkste; mit einem Brecheisen eins drauf … und fertig.« Der Alte war heftig erregt.
Artjoms Gesicht verfinsterte sich.
»Ich kann's nicht. Weiß nicht, warum - aber ich bring es nicht übers Herz. Der Soldat ist ja im Grunde genommen nicht schuld, den haben sie ja auch gewaltsam in den Krieg getrieben.«
Politowskis Augen blitzten auf.
»Er ist nicht schuld daran, sagst du. Aber sind wir vielleicht schuld daran, dass man uns hierher gejagt hat? Wir fahren doch eine Strafexpedition. Diese Unschuldslämmer werden die Partisanen über den Haufen schießen, und die, sind die wohl schuld …? Was bist du für ein Kindskopf. Stark wie ein Bär, aber was nützt das schon …«
»Also gut«, brachte Artjom heiser hervor und griff nach dem Brecheisen. Politowski aber flüsterte:
»Lass, ich mach es lieber selber. Nimm du die Schaufel und wirf Kohlen vom Tender herüber. Wenn's nötig sein sollte, versetzt du dem Deutschen eins mit der Schaufel. Und ich tue so, als wollte ich Kohlen zerkleinern.«
Brusshak nickte zustimmend mit dem Kopf und trat zum Regulator.
Der Deutsche, in seiner schirmlosen Feldmütze mit dem roten Rand, saß, das Gewehr zwischen die Beine geklemmt, seitwärts auf dem Tender und rauchte eine Zigarre; ab und zu warf er einen Blick zu den auf der Lokomotive beschäftigten Arbeitern hinüber.
Als Artjom hinaufkletterte, um Kohle zu schaufeln, schenkte der Posten diesem Vorgang keine besondere Beachtung. Und als dann Politowski, als wolle er vom Rand des Tenders her große Kohlestücke heranschaffen, ihm durch ein Zeichen zu verstehen gab, dass er ein wenig wegrücken solle, kam der Deutsche willig herunter, trat auf die Tür zu, die zum Führerstand führte.
Der dumpfe kurze Hieb mit dem Brecheisen, der dem Deutschen den Schädel einschlug, ließ Artjom und Brusshak erschauern. Der Soldat sackte zusammen und fiel auf den Durchgangssteg.
Die feldgraue Tuchmütze wurde von Blut durchtränkt. Das Gewehr schlug klirrend auf Eisen.
»Der ist fertig«, flüsterte Politowski, warf das Brecheisen weg und fügte mit krampfhaft verzerrtem Gesicht hinzu:
»Jetzt gibt's kein Zurück.« Die Stimme versagte ihm, aber schon im nächsten Augenblick durchbrach er das bedrückende Schweigen und rief laut:
»Los, schraubt den Regulator ab!«
In zehn Minuten war alles erledigt. Die Lokomotive, jetzt ihrer Führung beraubt, verlangsamte allmählich die Fahrt.
Die dunklen Silhouetten der am Wegrand stehenden Bäume tauchten im Feuerschein der Lokomotive auf und verschwanden wieder im Schatten der Nacht. Die glühenden Augen der Maschine suchten die Finsternis zu durchdringen, doch ihr Licht verfing sich ringsum im dichten Schleier der Nacht und vermochte ihr nur wenige Meter zu entreißen. Die Lokomotive keuchte, als gäbe sie ihre letzten Kräfte her, ihr Fauchen wurde allmählich schwächer und schwächer.
»Los, Junge, spring ab!« hörte Artjom die Stimme Politowskis hinter sich. Im selben Moment ließ er den Griff los. Der schwere Körper wurde nach vorn geschleudert, und die Füße prallten heftig auf dem entgleitenden Boden auf. Artjom lief zwei Schritte, dann überschlug er sich und stürzte schwer hin.
Von den beiden Trittbrettern der Lokomotive lösten sich gleichzeitig noch zwei Schatten.
In Brusshaks Haus herrschte trübe Stimmung. Antonina Wassiljewna, Serjo-shas Mutter, hatte in den letzten vier Tagen völlig den Kopf verloren. Sie war ohne jede Nachricht von ihrem Mann. Sie hatte in Erfahrung gebracht, dass die Deutschen ihn wie auch Kortschagin und Politowski gezwungen hatten, gemeinsam einen Zug zu befördern. Gestern waren drei von der Hetmanwache im Haus erschienen und hatten sie grob fluchend nach ihrem Mann ausgefragt.
Dunkel hatte sie erraten, dass etwas Schlimmes passiert sein musste, und nachdem die Soldaten die Wohnung verlassen hatten, warf sie ein Tuch um und ging, von der schrecklichen Ungewissheit gepeinigt, zu Maria Jakowlewna, von der sie etwas über ihren Mann zu erfahren hoffte. Ihre älteste Tochter Walja, die gerade in der Küche wirtschaftete, sah die Mutter weggehen und fragte: »Wohin gehst du, Mutter?«
Antonina Wassiljewna antwortete der Tochter mit Tränen in den Augen:
»Zu Kortschagins. Vielleicht kann ich dort erfahren, was mit dem Vater ist. Wenn Serjosha heimkommt, sag ihm, dass er zu Politowski auf die Station gehen soll.«
Walja umarmte die Mutter und bemühte sich, ihr während der wenigen Schritte zur Tür Trost zuzusprechen:
»Es wird schon noch alles gut werden, Mama.«
Bedrückt verließ die Mutter das Haus.
Maria Jakowlewna empfing die Frau sehr herzlich. Beide erwarteten, etwas Neues voneinander zu erfahren, aber diese Hoffnung verschwand gleich nach den ersten Worten.
Auch bei Kortschagins war nachts Haussuchung gewesen. Man hatte Artjom gesucht. Die Soldaten hatten Maria Jakowlewna zu Tode erschreckt. Sie war allein in der Wohnung gewesen; Pawel hatte Nachtschicht im Elektrizitätswerk.
Am frühen Morgen kam Pawel nach Hause. Als er durch die Mutter von der nächtlichen Haussuchung und vom Fahnden nach Artjom erfuhr, erfasste ihn quälende Unruhe um den Bruder. Die Brüder liebten einander trotz ihrer verschieden gearteten Charaktere sehr. Es war eine raue Liebe, ohne viele Worte, aber Pawel wusste genau, dass er, wenn es nötig wäre, ohne Zaudern jedes Opfer für den Bruder auf sich nehmen würde.
Pawel ruhte nach der Arbeit nicht aus, sondern eilte zur Station, um Shuchrai im Depot aufzusuchen. Er traf ihn jedoch nicht an, und die Arbeiter, mit denen er bekannt war, konnten ihm nichts über die Männer sagen, die losgefahren waren. Auch die Familie des Lokomotivführers wusste nichts. Pawel traf im Hof Politowskis jüngsten Sohn Boris. Von ihm erfuhr er, dass auch bei Politowskis nachts Haussuchung gewesen war. Man hatte nach dem Vater geforscht.
So kehrte er unverrichteterdinge zu seiner Mutter zurück, warf sich müde aufs Bett und fiel sofort in unruhigen Schlaf.
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