Unauffällig glitt meine Hand zum Stiefel und hangelte nach dem Messerschaft. So leicht würde ihm ein Anschlag nicht gemacht werden!
Währenddessen wurden wir weiterhin unentwegt von einigen Gestalten um uns herum beobachtet. Sollten diese Gesellen seine Komplizen sein, würde es bis zum Scharmützel wohl nicht mehr lange dauern, wenn er jetzt dermaßen in die Offensive ging!
Ich war einverstanden. Nachdem der Mann sich von der Echtheit des Mals überzeugt hatte, wurde er schlagartig sowohl blass als auch stumm und stierte in die Gegend. Eine innere Erschütterung schien ihm fast den Verstand zu rauben, so tumb wurde sein Blick. Dieser Zustand änderte sich nicht. Nun war es an mir, für den Fortgang des Gesprächs zu sorgen.
„Seid Ihr nicht eine Erklärung schuldig, nachdem Euer Wunsch erfüllt wurde. Bisher tretet Ihr mehr als unhöflich auf!“
Meine Worte klangen äußerst unwirsch, aber ich war verärgert. Der Fremde setzte sich hierher, bedrängte mich, und anstelle des erwarteten Angriffes folgte solch ein Verhalten!
Die Reaktion fiel überraschend aus. Der Unbekannte schüttelte den Kopf, als wolle er einen schlechten Traum loswerden und entschuldigte sich mehrfach beinahe herzlich.
„Dies ist die Bestätigung - Ihr seid der Enkel von Nurim Abdul Fahd!“
Misstrauische Blicke umher suchten den Raum nach ungebetenen Zuhörern ab, bevor seine Erzählung begann. Mir schoss das Blut in den Kopf. Es rauschte förmlich zwischen den Ohren. Obwohl auf einem Stuhl sitzend, schien der Boden sich zu drehen. Langsam fasste ich nach dem treuen Hund, wie zum Beweis, dass alles Wirklichkeit war und kein Traum.
Der Name des Mannes war Kilian.
Als wandernder Arzt und Heiler im Heiligen Land unterwegs, besuchte er von Zeit zu Zeit Freunde auf Malta und Zypern, um sich dort auszuruhen. Seine genaue Unterkunft blieb unerwähnt.
In diesen Tagen war mein Gegenüber wieder einmal auf dem Weg dorthin und wartete wie ich auf das Schiff für die Überfahrt. Viel schien ihm seine Arbeit nicht einzubringen, aber zum Überleben reichte es wohl, wie er durchblicken ließ. Ich war verwundert, ließ ihn aber erzählen. Was hatte das alles mit mir zu tun? Bald ging das Schiff, und trotzdem sprach er langatmig nur von sich!
Dann folgte plötzlich ein Wechsel in die Vergangenheit. Dabei straffte sich seine Gestalt, als würde die alte Zeit wieder lebendig.
Vor seiner Zeit als Heiler hatte er als Leibarzt für einen Ritter gearbeitet, der im Auftrag der Templer unterwegs war. Der Mann heiratete eine Einheimische aus einer der besten Familien. Sie bekamen ein Kind und ließen sich im Heiligen Land nieder. Ohne Warnung wurde die Familie abgeschlachtet. Das Kind konnten Getreue retten, aber später verschwand es spurlos. Die Mörder suchten noch jahrelang nach ihm, um ihren Triumpf zu komplettieren, aber sie blieben erfolglos.
Kilian stockte, vielleicht auch, weil er sah, welche Wirkung seine Worte hatten. Mir dröhnte der Schädel, denn ich wusste, wie diese Schilderung weitergehen würde. Ich konnte es nicht glauben, wollte die Entwicklung kaum wahrhaben. Noch einige Sätze mehr - vielleicht hatte ich endlich einen weiteren Zugang zu meiner Vergangenheit und der eigenen, unbekannten Familie gefunden!
Angst kam hoch, mich verstiegen zu haben und falsch zu liegen, wieder ins Leere zu laufen.
Mein Gegenüber sprach weiter, und jeder einzelne Gedanke bekam Bestätigung.
Der Arzt war bei der Rettung des Kindes dabei gewesen, wie er es auch mit auf die Welt geholt und seinen ersten Schritten zugesehen hatte. Der Junge wurde nach dem Massaker immer wieder neu versteckt. So gut wie niemand wusste von der nächsten Zuflucht. Dann verlor sich bei einem plötzlichen Zugriff der Feinde die Spur des Kindes. Der frühere Knappe des Ritters versteckte ihn in höchster Not woanders als geplant. Kurz darauf wurde er aufgespürt und erschlagen, ohne den Feinden etwas verraten zu haben. Aber auch die anderen Helfer des Jungen hatten ihn nun verloren. Sie suchten vergebens.
Er blieb bis heute wie vom Erdboden verschluckt.
Das Kind hatte damals am linken Arm einen Blutschwamm von der Größe eines Eichenblattes, das an drei Seiten geschlossen, an der vierten weit offen und geschwungen war. Sollte die Waise überlebt haben, könnte man sie vielleicht ein Leben lang daran erkennen.
Ansonsten hatte es nie wieder ein Lebenszeichen gegeben.
Ich musste meinen linken Arm nicht ansehen - Kilian sprach von meinem Mal!
Das Reden war unmöglich, das Denken fiel schwer - ich stierte ihn nur noch an.
Zu groß war die Tragweite dessen, was der Arzt mir gerade offenbart hatte!
Er fasste meinen Arm und drückte ihn fest.
„Ihr seid der Sohn meines Freundes. Ihr seid der verschollene Junge!“
Wir hatten schlagartig beide Tränen in den Augen. In seinem Gesicht spiegelten sich Rührung und grenzenlose Freude. Ich war völlig überrumpelt von der Schilderung und konnte nicht sprechen. Dieser Mann hatte meine Mutter gekannt und war ein Freund meines Vaters gewesen!
Ich schluckte und wollte reden, aber es kam kein Wort heraus. Wir fielen uns in die Arme und drückten einander vor Freude. Kurz darauf stand eine Magd am Tisch und fragte eindringlich nach Wünschen.
Langsam kam die Wirklichkeit zurück.
Dann brach die innere Anspannung auf. Einer überschüttete den anderen mit Fragen. Es schien unmöglich, Jahrzehnte aufholen zu können, aber wir versuchten es. Kilian erkundigte sich genau nach dem Verlauf meines Lebens. Ich verschwieg nichts, außer dem Ort und Namen meines Klosters. Sollten seine Erzählungen auch komplett der Wahrheit entsprechen, durften die Freunde dort trotzdem durch Redseligkeit keiner Gefahr ausgesetzt werden. Feinde waren ohnehin genug unterwegs.
Kein Misstrauen, nur Vorsicht ...
Es wurde Zeit - das Schiff wartete.
Wir verließen die ungastliche Stätte und gingen an Bord. Die Pferde waren wohlauf und begrüßten mich mit lautem Wiehern, wie einen vermissten Freund. Trotz der überbordenden Gefühle achtete ich unentwegt auf unsere Umgebung, doch bis jetzt drohte keine Gefahr.
Nach dem Bezug der Kapitänskajüte redeten wir pausenlos, als solle auch nicht ein einziger Moment verlorengehen.
Kilian hatte das Leben nach dem Tod meiner Eltern übel mitgespielt. Für die geleistete Treue mussten er und andere Weggefährten teuer bezahlen. Im Kerker folterte man sie fast zu Tode. Der Templerorden intervenierte und konnte so das Schlimmste verhindern. Trotzdem waren sie geächtet. Es blieb nur noch die Zuflucht in Templerstätten und befreundeten Klöstern. Irgendwann tauschte er die Arbeit bei den Mönchsrittern gegen das Wanderleben ein und versuchte, mich auf seinen Wegen aufzuspüren - erfolglos.
Die Jahre vergingen.
Mittlerweile lebten nicht mehr viele der Weggefährten meines Vaters. Sie gaben die Hoffnung nicht auf, aber auch ihren Nachforschungen war einfach kein Erfolg beschieden.
Unsere Zeit an Bord des Schiffes schien regelrecht zu verrinnen.
Irgendwann bat Kilian um ein wenig Schlaf. Ich verließ die Kajüte und ging an Deck, den Hund immer neben mir.
Welch eine Entwicklung!
Der Mann, der mich auf die Welt geholt hatte, schlief unten, und ich wachte über ihn. All die langen Jahre der Einsamkeit, ohne eigene Familie, ohne Zuhause und richtige Erinnerung - und plötzlich dies!
Jetzt noch die Fahrt zur Insel, zurück in meine Vergangenheit! Dazu ein Hund, der mich weiterhin als Freund ausgesucht hatte!
Zu groß wurden die Gefühle. Meine Fassung drohte verlorenzugehen.
Ich stand an Deck und sah verloren in die Ferne. Die See wurde stürmischer. Gischt peitschte, und die Wellen kräuselten sich nun deutlich mehr. Alles war bis zum Horizont aufgewühlt.
Noch etwas kam hinzu. Ich versteinerte fast vor Rührung. Oder war es Wehmut?
Der Vogelfelsen mit seinen Tausenden von Vögeln - ich konnte ihn sehen!
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