Ich starre diesen Kieran MacLaughlin noch ein Weilchen länger an. Er unterhält sich mit dem jungen Paar genauso zwanglos, wie eben noch mit Izzy und mir. Sicher, bereits die Mädels vom Jungesellinnenabschied haben bemerkt, dass er gut aussieht und ich kann mich dem auch nicht verschließen. Auf eine kantige, maskuline Art tut er das wohl mit seinem Drei-Tage-Bart. Aber darüber muss ich mir jetzt keine Gedanken machen, es gibt andere Baustellen in meinem Leben.
„Er ist nett“, gebe ich zu, als ich mich wieder Izzy zuwende.
„Nett? Nett ist die kleine Schwester von…“
„Nein, ist es nicht.“, unterbreche ich sie ungehalten. „Nett ist einfach nett. Nicht mein Typ, aber sehr freundlich.“
Als mein Blick zufällig auf die Speisekarte fällt, wird mir erst bewusst, dass ich meine Umgebung wieder ganz normal wahrnehmen kann. Und dass meine Angst plötzlich wie verflogen ist.
Nichts fühlt sich wirklich an. Nicht, als wir meine Sachen in sämtliche verfügbare Koffer und Taschen packen und auch nicht, während der Fahrt von Newcastle nach Edinburgh. Die Häuser hier unterscheiden sich nicht großartig von denen bei uns, dennoch bin ich entschlossen, alles zu hassen.
„Es ist spießig hier.“ Ich betrachte die georgianischen Gebäude, die Seite an Seite die Brunstane Road säumen und verspüre keinen Drang, das Auto zu verlassen.
„Es ist eben ein altes Haus. Und nicht weit vom Strand.“ Mum sieht mich erwartungsvoll, als müsse ich jetzt in Freude ausbrechen, während sie sich abschnallt.
„Ich habe nicht viel für den Strand übrig“, gebe ich zurück.
Als Antwort darauf knallt Dad seine Autotür von außen zu, als wäre er der unglaubliche Hulk. Ich denke, er ist ziemlich erleichtert, wenn er endlich ohne mich nach Hause fahren darf.
Nach meinem Besuch bei Lewis habe ich meinen Eltern sofort mitgeteilt, dass ich doch nach Edinburgh gehe. Beide waren erleichtert, doch während mein Vater die ganze Woche über geradezu verboten gut drauf war, war meine Mum auch häufig traurig und wenn sie glaubte, keiner würde es bemerken, wischte sie sich verstohlen ein paar Tränen weg.
„Bist du auch sicher, dass du alles eingepackt hast?“ Mum fragt das zum hundertsten Mal. Zum hundertsten Mal antworte ich nicht darauf, woraufhin sie einfach weiterplappert. „Naja, ich habe dir ja beim Kofferpacken geholfen, es wird schon alles da sein.“
„Und selbst wenn nicht, wohnen wir nicht gerade Lichtjahre entfernt, Liz.“
Mittlerweile sind wir ausgestiegen. Dad betrachtet Mum genervt über das Autodach hinweg. Es ist der typische Dad-Mum-Blick. Bevor ich mir das weiter antue, hole ich lieber meine Sachen aus dem Kofferraum.
„Liiiiiz! Huhu!“
Ich vergrabe mich hinter dem Kofferraumdeckel, als ich Tante Jeans laute, etwas schrille Stimme höre, die von der Haustür zu uns herüber dringt. Dad tut es mir gleich und taucht ebenfalls tief in den Kofferraum ein, um in der hintersten Ecke eine Tasche von mir zu suchen.
„Die solltest du nicht vergessen“, sagt er, als wäre das enorm wichtig. Dabei hat er auf Tante Jean einfach so viel Lust wie auf eine Vasektomie.
Allerdings hilft das Versteckspiel nicht viel, denn die Koffer und Taschen sind schnell aus dem Auto geholt. Steif stehe ich da, während Tante Jean in einer Wolke aus rosa Chiffon auf uns zueilt, um erst Mum ein Küsschen links und rechts auf die Wange zu drücken und es dann bei Dad und mir gleichzutun. Hinter ihr her tapert Sherlock, der asthmatisch keucht, gefolgt von Onkel Allan, der uns allen nur steif die Hand gibt. Er ist, im Gegensatz zu Tante Jean, nicht so sehr für Körperkontakt, was ihn mir sehr sympathisch macht.
„Da seid ihr ja endlich!“ Der Traum in Rosa breitet die Arme aus und zeigt auf das Reihenhäuschen vor uns. Es sieht ein wenig heruntergekommen aus im Gegensatz zu seinen Nachbarn links und rechts, die anscheinend kürzlich renoviert worden sind. Die Fassade ist schmuddelig, an manchen Stellen bröckelt sie schon.
„Es gab einen Stau kurz vor Edinburgh“, verteidigt sich Mum, obwohl niemand sie angegriffen hat.
„Das Übliche, wenn man Freitagnachmittag irgendwohin fährt“, ergänzt Dad.
„Zum Glück sind Allan und ich schon heute Morgen hergekommen, da war noch alles ruhig.“
„Brian musste noch bis Mittag in der Praxis arbeiten.“ Mum wirft Dad einen vorwurfsvollen Blick zu. Ich bücke mich zu Sherlock hinunter, um ihn hinter den Ohren zu kraulen, damit niemand sieht wie genervt ich bin.
Als ich wieder hochkomme, entdecke ich sie. Lauren. Sie steht im Rahmen ihrer Haustür und sieht zu uns hinüber, macht aber keinerlei Anstalten uns zu begrüßen. Eigentlich wirkt sie so, als würde sie gar nicht hierher gehören, obwohl es doch ihr Haus ist.
„Kommt rein“, fordert uns Tante Jean auf und eilt voraus. Über die Schulter ruft sie noch: „Allan, hilf Brian doch bitte mit dem Gepäck.“
Als Dad und Onkel Allan wie zwei Esel bepackt mit meinen Koffern und Taschen ins Haus gehen und Mum folgen, die schon längst Tante Jean hinterher gehastet ist und nun ihre Cousine begrüßt, bleibe ich neben dem Auto stehen. Vom Meer weht eine kühle Brise die Straße hinauf, die einen salzigen Duft mit sich trägt, der ferne Erinnerungen an Strandurlaube in Spanien mit sich bringt. Das war, bevor Mum und Dad sich gleichgültig wurden und fortan getrennt in Urlaub fuhren – Dad meist mit mir auf irgendeinen Städtetrip und Mum mit ihren Mädels in diverse Wellnesshotels.
„Charlotte?“ Mum sieht mich von der Haustür aus auffordernd an. Ich seufze missmutig. Mein Blick wandert das kleine Reihenhäuschen auf und ab, das ab sofort auf unbestimmte Zeit mein Zuhause sein wird, dann setze ich mich in Bewegung.
Drinnen gibt es den unvermeidlichen Tee. Tee scheint für Erwachsene in jeder Lebenslage die richtige Lösung zu sein, was für mich überhaupt nicht nachvollziehbar ist. Immer und überall gibt es ihn. Wenn eine schwierige Situation zu meistern ist, wird zunächst eine Tasse Tee aufgebrüht und während einer Diskussion ist der Lieblingssatz aller Erwachsenen meines Erachtens: „Lasst uns doch bei einer schönen Tasse Tee darüber reden.“ Als hätte die schon jemals irgendeine Lösung gebracht. Ich habe noch nie davon gehört, aber trotzdem schwören alle darauf.
Ich setze mich an den klobigen Esstisch aus dunklem Holz, der in dem kleinen Erker fast überdimensioniert wirkt und sehe mich um. Alles in diesem Haus scheint alt und reichlich ramponiert zu sein. Fast erwarte ich, dass auf dem durchgesessenen Sofa zehn Katzen liegen, denn alles wirkt genauso, wie ich mir das Heim einer alten, schrulligen, alleinstehenden Lehrerin mit tausend Katzen vorstelle.
„Hi, ich bin Lauren.“
Gut, sie ist keine alte Lehrerin. Aber definitiv alleinstehend und vielleicht auch schrullig.
„Hast du Katzen?“
„Äh… Nein. Nicht, dass ich wüsste. Vielleicht ist mir in den letzten zehn Minuten eine zugelaufen, da war ich abgelenkt, aber falls dem nicht so sein sollte, dann habe ich keine.“
Sie lächelt dabei nicht, sondern runzelt nur zerstreut die Stirn. Dennoch finde ich Lauren gegen meinen Willen ein bisschen witzig.
„Darf ich mich zu dir setzen?“, fragt sie, dabei ist es doch ihr Haus und ihr Esstisch.
„Tu dir keinen Zwang an.“
„Charlotte!“, ermahnt mich Mum streng. „Sei etwas höflicher zu Lauren.“
„Schon gut.“ Lauren lässt sich auf den freien Platz neben mir sinken. Als sie die Hand nach der Teekanne ausstreckt, bemerke ich, dass sie zittert.
„Ich mache das schon.“ Tante Jean schnappt so schnell nach der Kanne wie ein Piranha nach einem Happen Fleisch. Sie steht, während alle anderen sitzen, bedient einen nach dem anderen, als wäre sie die Gastgeberin. „Es ist so schön, euch alle mal hier zu haben. Lauren, Liz, ihr habt euch sicher schon ewig nicht mehr gesehen.“
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