„Ja, Männer eben.“ Als wenn ich Ahnung davon hätte…
Ich werfe einen verstohlenen Blick auf Charlotte, die in ihrem XXL-T-Shirt völlig zu verschwinden scheint, so klein hat sie sich mittlerweile gemacht, ihre Miene ist eingefroren. Keine Ahnung, warum sie so ein riesiges Oberteil trägt, unter dem man ihre Figur überhaupt nicht erahnen kann. Zumindest sehe ich aber, dass es nicht passt, sondern einfach nur an ihr schlackert.
Liz lässt ihr Fenster hinunter, um noch kurz zu winken, dann fahren sie los. Als sie abbiegen und nicht mehr zu sehen sind, stoße ich Charlotte aufmunternd mit dem Ellbogen in die Seite.
„Wir werden schon miteinander zurechtkommen.“
Dabei bin ich mir überhaupt nicht sicher, ob ich mir selbst glauben soll. Der Nachmittag war eine reine Tortur für mich, bin ich doch von einer nahenden Panik in die nächste gefallen, ohne dass eine Attacke jedoch vollständig ausgebrochen wäre. Jetzt fühle ich mich einfach nur noch ausgelaugt und müde. Und ein Ende meiner Nervosität ist noch nicht in Sicht, denn schließlich habe ich ab heute die Verantwortung für einen Teenager. Ausgerechnet ich.
„Mach dir keine Gedanken, ich werde dir nicht mal auffallen. Ich verbringe gerne Zeit in meinem Zimmer.“ Charlotte blickt immer noch die Straße hinunter, wo das Auto ihrer Eltern eben verschwunden ist. Eine Gefühlsregung ist jedoch nicht erkennbar.
„Hey, apropos Zimmer. Ich habe dir dein Reich noch gar nicht gezeigt.“
Wie ein Sprinter auf den letzten Metern haste ich ins Haus, weil ich es draußen immer unerträglicher finde. Vor allem, da gerade Gail von nebenan nach Hause kommt. Sie ist in meinem Alter, hat einen Mann und zwei kleine Kinder und ich habe das Gefühl, dass sie sich mit mir anfreunden will. Zumindest drängt sie mir zu jeder Gelegenheit ein Gespräch auf, was mir wirklich überhaupt nicht recht ist. Ich brauche keine neue Freundin.
„Komm mit nach oben“, fordere ich Charlotte auf, dann steige ich die knarzenden Stufen hoch, die ebenfalls dringend renovierungsbedürftig wären, wie so vieles in diesem Haus.
Als ich die Türe zu Charlottes Zimmer öffne, bin ich mir gar nicht mehr so sicher, ob es Izzy und mir besonders gut gelungen ist. Vielleicht sind wir mit der Farbe Pink ein wenig zu verschwenderisch umgegangen, da Izzy meinte, dass Mädchen darauf abfahren. Wenn ich mir die ganz in Schwarz gekleidete Charlotte ansehe, bin ich plötzlich anderer Meinung.
„Es ist…“ Ich suche nach den richtigen Worten. ‚Girlymäßig‘ würde es am ehesten treffen. Aber erstens bin ich mir nicht sicher, ob es dieses Wort überhaupt noch gibt und zweitens ist Charlotte alles, nur eben das nicht.
„Süß“, meint sie hingegen und das finde ich, trifft es eigentlich auch ganz gut. Wie eines der Edinburgh Rock, die jetzt wieder auf dem Schreibtisch bereitstehen. Ich konnte einige vor Izzy retten und nun liegen die pastellfarbenen Würfelchen wie ein passendes Accessoire da, inmitten eines Traumes in Rosa.
„Es tut mir leid, dass es so… süß ist. Ich wusste ja nicht, was du magst und wie du bist.“
„Da hast du Recht, es passt nicht zu mir. Ich bin nicht süß.“
„Das wollte ich damit nicht sagen.“
„Hast du aber irgendwie. Und es stimmt ja auch. Eine Schulschwänzerin, die man ins Exil verbannt hat, ist ganz sicher nicht süß.“
„Exil?“ Ich muss mir ein Lachen verkneifen. „Edinburgh ist nicht gerade St. Helena.“
„Und ich kein Kriegstreiber wie Napoleon.“
„Dafür, dass du die Schule nicht oft besuchst, kennst du dich in Geschichte zumindest ganz gut aus.“
„Ich lese viel“, gibt Charlotte kühl zurück.
Als wäre es feindliches Terrain, betritt sie vorsichtig ihr neues Zimmer und betrachtet alles misstrauisch. Man muss keine Gedanken lesen können, um zu sehen, dass es ihr nicht sonderlich gefällt. Mir fallen ihre Koffer und Taschen ein, die immer noch im Flur unten stehen.
„Sicherlich wird das alles mehr nach deinem Geschmack sein, wenn du deine Sachen ausgepackt hast. Soll ich dir helfen, deine Koffer hochzutragen?“
„Nein. Das schaffe ich alleine.“ Wenn Blicke töten könnten, wäre ich spätestens jetzt nicht mehr am Leben.
„Es war nur ein Angebot.“ Ich zucke mit den Achseln, tue so gleichgültig wie möglich. Gleichzeitig kriecht Panik in mir hoch – mal wieder.
Was soll ich nur mit diesem Mädchen, das ganz offensichtlich keine Lust darauf hat bei mir zu leben? Was ich durchaus verstehen kann… Gott, was haben sich Ma und Liz bei diesem Plan nur gedacht?
„Ich bin unten und räume auf, falls du mich brauchst“, würge ich hervor, mein Mund eigentlich viel zu trocken um zu sprechen. Dann flüchte ich so schnell wie möglich vor der Situation.
„Was soll ich mit ihr anfangen?“ Zur Sicherheit flüstere ich ins Telefon, obwohl ich mir sicher bin, dass Charlotte mich nicht hören kann.
Wütend stampfend hat sie lautstark ihre Sachen aus dem Flur geholt und nach oben gebracht. Jedes Mal wenn sie nach unten oder oben ging, hatte ich Angst, dass die alte Treppe zusammenbrechen könnte, die bei jedem Gang ächzte. Anscheinend hat sie Lautsprecher in einem ihrer Koffer gehabt, denn mittlerweile dröhnt Musik durch das ganze Haus, weswegen ich mir auch so sicher bin, dass sie mich nicht telefonieren hören kann. Wenn ich jeden Song höre, als würde ich direkt neben der Box stehen, dann muss es in ihrem Zimmer ohrenbetäubend sein.
„Lass sie doch für heute einfach in Ruhe“, schlägt Izzy vor. „Sie muss doch erstmal ankommen und sich an die neue Umgebung gewöhnen.“
„Sie ist kein Hundewelpe.“
„Wo ist denn da der Unterschied? Als wir Joy bekamen, fühlte sie sich anfangs auch extrem unwohl. Schließlich war sie das erste Mal von ihrer Familie getrennt. Aber irgendwann hat sie sich eingelebt.“
„Joy ist ein Spaniel! Charlotte ist ein Teenager und im Gegensatz zu Hunden erinnern sich Menschen an ihre Familie. Sie vermissen sie.“
„Denkst du wirklich, dass sie Eltern vermisst, die es fertigbringen sie einfach wegzugeben?“
„Ich habe dir schon hundert Mal erklärt, dass es so nicht gedacht ist. Es ist eine Art Lektion.“
„Pah!“, höhnt Izzy.
„Ja, schon gut. Ich halte auch nicht viel davon, aber…“
„Aber du konntest dich mal wieder nicht gegen deine Mutter durchsetzen. Wann fängst du endlich an, ihr Kontra zu geben?“
„Was hilft mir das jetzt, Izzy? Soll ich sie anrufen und ihr sagen, was für eine beschissene Idee sie und Liz hatten? Ach ja, und dann bitte ich Liz und Brian als nächstes, ihre Tochter wieder abzuholen.“
Wenn ich dachte, Charlotte hätte die Leistung ihrer Lautsprecher bereits ausgeschöpft, habe ich mich getäuscht, denn die Musik wird noch einen Tick lauter.
„Was sagst du? Ich verstehe dich kaum, Lauren. Kannst du die Musik ein bisschen leiser drehen?“ Izzy schreit fast in den Hörer.
„Das ist nicht meine Musik, sondern Charlottes.“ Genervt schmeiße ich die Wohnzimmertür hinter mir zu, damit das Gedröhne ein wenig abgeschwächt wird.
„Oh! Ich glaube, das ist ein gutes Zeichen. Teenager leben ihre Gefühle über Musik aus. Was hört sie denn?“
„Keine Ahnung.“ Ich zucke die Achseln. „Aber es klingt alles ziemlich depri.“
„Das ist gar nicht gut“, meint Izzy alarmiert. „Sie sollte sich nicht in eine Depression hineinsteigern, was in ihrer Situation gut sein könnte.“
Izzy liest leidenschaftlich gerne Psychologieartikel in allen erdenklichen Frauenzeitschriften und hält sich deswegen für eine Expertin auf diesem Gebiet. Nur schade, dass sie bislang noch keinen Bericht über Ängste gelesen hat und mir damit helfen könnte.
„Und was soll ich tun?“ War das nicht schon meine Ausgangsfrage? Ich habe das Gefühl wir drehen uns im Kreis.
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