„Geh mit ihr etwas essen, oder zeig ihr den Strand. Ihr könntet an der Promenade ein Eis kaufen.“
„Du weißt aber schon, mit wem du sprichst?“
„Es sind nur 200 Meter bis zum Strand. Das schaffst du schon, Lauren.“
An schlechten Tagen schaffe ich es nicht mal zur Haustür hinaus und heute ist ganz sicher einer davon. Aber ich bin es leid, das Izzy immer wieder sagen zu müssen. Wenn ich nur daran denke, dass ich mit Charlotte vor die Tür gehen und dabei auch noch gute Miene zum bösen Spiel machen soll, dreht sich mir der Magen um. Aber das versteht vermutlich niemand, der dieses Gefühl nicht kennt.
„Mädchen lieben den Sonnenuntergang am Meer, das ist so romantisch. Sie fühlen sich dann in einen ihrer Liebesromane versetzt. Sowas wie Twilight .“
Ich bezweifle, dass Izzy Twilight gelesen hat, denn dann wüsste sie, dass das nicht ganz die rosarote Liebesgeschichte ist, die sie sich vorstellt. Und so überhaupt nichts mit Sonnenuntergängen am Meer zu tun hat, sondern eher mit Vampiren und Werwölfen, diesigen Regengebieten und - ja, gut, zugegeben - auch mit der großen Liebe. Die ist allerdings ein wenig schwülstig dargestellt, weshalb sowas für Charlotte wohl eher nichts ist. Vampirgeschichte ja, Liebesschnulze nein. Ich muss ja nur daran denken, wie sie das rosa Zimmer angeekelt betrachtet hat, als würde sie in einen riesigen Erdbeerkaugummi treten, der am Boden liegt und darauf wartet, dass man hineinstolpert und ihn fortan nicht mehr loswird, damit er bei jedem Schritt seinen künstlich süßen Geruch verströmen kann.
Ich merke schon, Izzy ist keine große Hilfe, was Mädchen in der Pubertät betrifft. Oder sollte ich besser sage, was Charlotte betrifft. Das ist nämlich ein Unterschied, wie ich finde. Ich kenne den Durchschnittsteenager, und Charlotte ist keiner.
„Ich überleg mir was.“, versuche ich das Gespräch lahm zu beenden.
Die Wohnzimmertür schwingt geräuschvoll auf, knallt gegen das Bücherregel und lässt eine alte, zerlesene Ausgabe von ‚Stolz und Vorurteil‘ zu Boden fallen, die ich immer lese, wenn ich nicht einschlafen kann. Jane Austen hat etwas sehr Beruhigendes an sich, vor allem in Kombination mit einem Kamillentee.
„Hast du vielleicht Powerstrips im Haus?“ Charlotte hebt eine ihrer hübschen schwarzen Augenbrauen, die ein wenig zu buschig sind, gerade deshalb aber ihre Augen so ausdrucksstark machen. Sie schreit, denn anders können wir uns nicht verständigen. Ein stampfender Beat und Gitarren treiben ein ansonsten eher ruhiges Lied vorwärts, bis es im Refrain seinen Höhepunkt erreicht.
„Klar, ich gebe sie dir“, rufe ich ihr zu, dann schreie ich in den Hörer: „Ich muss Schluss machen, Izzy. Charlotte braucht mich.“
„Alles klar“, brüllt sie zurück und bevor ich auflege höre ich noch, wie sie mir zuruft: „Hey, das ist ja Shawn Mendes!“
Okay, ich habe eine Sache richtig gemacht. Ich habe ein Poster von einem Star aufgehängt, den Charlotte gerne mag (ja, ich weiß, es war eigentlich Izzy). Deshalb durfte Shawn Mendes wohl auch über ihrem Bett hängenbleiben. Ansonsten erkenne ich mein Gästezimmer nicht wieder. Nur zu sagen, es ist schwarz, würde es nicht ausreichend treffen. Es ist nicht nur alles schwarz, sondern es ist auch düster. Und damit meine ich dunkel. Und ein bisschen deprimierend.
Das Fenster ist mit einem schwarzen Tuch verhangen, das meine Nachbarn vermutlich für einen Trauerflor halten würden. Zum Glück geht es aber zum Garten raus, sodass es niemand sieht. Überhaupt hat Charlotte eine beinahe exzessive Vorliebe für Schwarz. Ihr Bettbezug ist schwarz mit kleinen schnörkeligen silbernen Ornamenten darauf. Überall sind schwarze Kerzen aufgestellt, die Izzys kleines Chiffontüchlein über der Lampe brandtechnisch völlig in den Schatten stellen. Und sogar ein schwarzer Langflorteppich ist auf dem Boden ausgerollt, von dem ich mich frage, aus welchem Koffer sie den hervorgezaubert hat. Auf dem Schreibtisch liegen sämtliche Bücher von ‚Vampire Diaries‘, was meine Vermutung bestätigt, dass Charlotte auf Vampirgeschichten steht. Ich weiß zu wenig darüber, um sagen zu können, ob auch hier eine schwülstige Liebesgeschichte im Vordergrund steht, bezweifle es aber.
„Danke für die Powerstrips.“ Sie nimmt mir die Packung aus der Hand und macht sich daran, ein Poster aufzuhängen.
„Oh, ‚Vampire Diaries‘ wurde wohl auch verfilmt.“, sage ich nur dümmlich, als ich das Poster betrachte. Ich habe wirklich so gar keine Ahnung.
„Natürlich.“ Sie verdreht die Augen. „Das einzige, was man sich auf Netflix anschauen kann.“
„Hm.“ Mehr sage ich nicht. Kann ich auch gar nicht, ich habe nämlich kein Netflix. Eigentlich schaue ich auch sehr selten Fernsehen. Genau genommen, seit mir alles Angst macht. Actionfilme, weil sie oft brutal sind. Liebesfilme, weil man da manchmal weinen muss. Und Komödien, weil ich Angst habe, dass ich beim Lachen ersticke. Und das ist jetzt ganz und gar nicht komisch.
„Du bist doch nicht etwa eine von den altmodischen Tanten, die Fernsehen verbieten?“ Sie betrachtet mich argwöhnisch.
„Nein… Nein! Du kannst gerne Fernsehen so viel du willst, so lange ich nicht mitschauen muss…“
Ihr Gesichtsausdruck sagt mir ganz deutlich, dass sie darauf auch keinen gesteigerten Wert legt. Ich fühle mich unter ihrem Blick extrem unwohl, weshalb ich die Flucht nach vorne starte.
„Wir könnten heute Abend Essen gehen. Ich habe nichts zum Abendessen vorbereitet und es wäre doch ganz nett, um deine neue Heimat kennenzulernen.“
„Okay.“
Enthusiastisch ist etwas anderes, so viel ist klar. Dennoch nehme ich es als gutes Zeichen, dass sie nicht sofort dankend abgelehnt hat.
„Wie wäre es um sieben?“
Charlotte nickt nur und ich trete den Rückzug an. Auf dem Weg nach unten wird mir klar, was ich gerade getan habe. Wie konnte ich Charlotte nur fragen, ob sie mit mir Essen gehen möchte? Hatte ich so fest angenommen, dass sie ablehnen würde? Eigentlich nicht, ich hatte ja sogar gehofft, dass sie mein Angebot annehmen würde. Ich muss diesen mutigen Vorstoß als einen Augenblick geistiger Umnachtung einstufen.
Mir bricht augenblicklich der Schweiß aus, in der Küche werfe ich einen hektischen Blick auf die altmodische Uhr, die über der Tür hängt. Ich habe noch eine Stunde Zeit, um mich seelisch darauf einzustellen, dass ich das Haus verlassen muss. Fieberhaft denke ich darüber nach, wohin ich mit Charlotte gehen kann. Das Dalriada wäre naheliegend, aber sie haben freitags kein Essen, außerdem weiß ich nicht so recht, ob ich Lust habe diesem Kieran schon wieder zu begegnen. Zur Beruhigung sollte ich mir vielleicht einen Kamillentee aufbrühen, aber irgendwie bringe ich nicht mal das zustande. Stattdessen tigere ich im Erdgeschoss auf und ab und überlege fieberhaft, wie ich mein Dilemma lösen kann. Denn eines ist klar: ich kann auf keinen Fall in einem Restaurant sitzen, wenn ich innerlich so aufgewühlt bin. Vermutlich hält es mich keine fünf Minuten auf meinem Stuhl.
Charlotte ist pünktlich, was ich ihr hoch anrechne. Ich habe schon viele Schüler erlebt, die es damit nicht so genau nehmen und nur die Augen verdrehen, wenn man sie darauf hinweist, dass der Unterricht nicht erst dann anfängt, wenn sie sich bequemen zu erscheinen. Sie trägt immer noch das überdimensionierte T-Shirt und schwarze Skinnyjeans, das lange schwarze Haar hat sie allerdings mit einem Haargummi zu einem nachlässigen Dutt gebunden und ihre hübschen Augen umrahmt schwarzer Kajal, den sie eigentlich gar nicht nötig hat. Charlotte gehört zu jenen bewundernswerten Mädchen, die auch ohne Make-up hübsch sind.
„Ähm…“ Jetzt, da sie sich extra hergerichtet hat, ist es mir ein wenig peinlich, ihr meinen Plan zu unterbreiten. „Ich dachte, wir holen uns etwas vom China Express, der ist direkt am Strand. Dann nehmen wir unsere Sachen und machen ein Picknick am Meer.“
Читать дальше