Mit Edek begannen wir im Speicher bei unserem älteren Freund zu sitzen, welcher Flugmodelle zusammenklebte. Irgendwann zeigte er uns, wie man einen Drachen baut. Von Opa Kazimierz bekam ich dünne Leisten und Packpapier. Mit Edek malten wir Augen und ein lächelndes Gesicht. Aus farbenfrohen Papierchen, in welche Süßigkeiten gewickelt waren, die ich von Tante Szulc geschenkt bekommen hatte, machte ich einen langen, farbigen Schwanz. Wir ließen ihn auf der Wiese beim Głęboczek fliegen. Wunderschön bewegte sich der Drachen am Himmel. Fröhlich flatterte sein langer Schwanz. Ein kräftiger Windstoß riss unseren Drachen hinfort in die Krone einer vertrocknenden Pappel. Es war das Ende unseres und unseres Drachens.
Mit den Jungs spielten wir auch Ritter. Mit Schwertern aus Stöcken trugen wir Schlachten und Turniere aus. Doch was sind das für Ritter ohne Pferde? So kam mir eines Tages eine wunderbare Idee! Neben der Scheune, in welcher das Auto parkte, gab es gemäuerte Speicherabteile und in einem davon wohnte Frau Malinowskas Ziege. Die Ziege kann doch ein prachtvolles Ross vertreten! So wie wir eines brauchen! In meinen Hosentaschen hatte ich immer lauter Zeugs, so dass sich auch ein Stück verhedderter Schnur voller Knoten finden ließ. Gemeinsam mit Edek befestigten wir die Schlinge, um das „Pferd" in den Hof zu führen! Edek ging in das dunkle Speicherabteil und warf der Ziege die Schnur um den Hals. Wir griffen das andere Ende und zogen dran, zogen aus ganzer Kraft. Die Ziege meckerte und röchelte, blieb aber stur, stemmte sich dagegen und wollte um nichts in der Welt rauskommen. Wie eine Ziege eben! Wahnsinnig erschöpft waren wir und wütend auf das dumme Tier, das uns unser Spiel kaputt gemacht hatte, so gingen wir heim. Erst am nächsten Tag zeigte sich, dass wir nicht schlecht für Ärger gesorgt haben. Als Frau Malinowska in der früh ihre Ziege füttern und melken ging, fand sie diese leblos vor! Das arme Tier rüttelte sich um sich zu befreien, doch die Schlinge zog sich immer weiter zu, immer mehr und mehr bis sie schließlich an einem der Knoten festklemmte und erstickte. Wir wussten davon nichts. Mit der verwickelten Schnur, dem Beweis unseres Vergehens in Händen, war Frau Malinowska sofort zu Opa Kazimierz gegangen. Die Aufschrift Raiffeisen, welche auf der Schnur sichtbar war, ließ keinen Zweifel übrig, wer zu bestrafen sei. Opa bezahlte für die Ziege und wir bekamen ein Verbot, Edeks Hof zu betreten.
Der Winter war in Tuchola unvergesslich. Zu Edeks Haus führte ein kurzes Gässchen hinab, das die Choinicka- mit der Kościelna-Straße verband. Wenn viel Schnee gefallen war, konnte ich auf dem Schlitten geradewegs vors Haus meines Freundes fahren. Auf der linken Straßenseite stand ein kleines erdgeschössiges Häuschen mit einem Dachfenster. Oft schauten aus diesem Fenster zwei Mädchen heraus, die jedesmal Grimassen zogen, „auf der Nase spielten" oder mir zuwinkten.
Es war ein wunderschöner Wintertag. An den Bordsteinkanten lagen Halden des von der Straße geräumten Schnees. Ich spielte mit Freunden. Die bekannten Mädchen zeigten sich wieder im Fenster. Wir stellten uns in die Nähe und begannen Schneebälle zu machen. Dann öffneten die unverschämten Fräulein das Fenster und machten sich lustig über uns. Ihr Verhalten verstanden wir als Provokation also begannen wir Schneebälle nach ihnen zu werfen. Nachdem einige direkt in ihr Zimmer geflogen waren, schlossen die Mädchen schnell wieder das Fenster. Dies hatte ich nicht realisiert und schickte einen Schneeball direkt in die Scheibe. Das zerbrochene Glas klingelte und die Scherben prasselten auf den Schnee wie Eiskristalle. Die Mutter der Mädchen ging sich bei Oma Ludwika beschweren. Schließlich war es Winter, Krieg. Woher sollte man jetzt Geld für eine neue Scheibe haben? Ich erschrak, dass das Maß meiner Streiche voll war und die Ruthe, welche bisher nur warnend am Geschirrschrank hing, nicht mehr lediglich zur Ordnung herbei rufender Abschreckung dienen würde. Sie hatte einen sehr schönen aus Holz gedrehten Griff, an den mit Ziernägeln in lange, dünne Streifen geschnittenes Leder befestigt war. Bisweilen hörte ich nach wieder einem meiner Streiche die Ankündigung der Erwachsenen: „Oh Dychu, wenn Du das nochmal machst, lernst Du die Ruthe kennen!" Ich bemühte mich sehr, dass meine Streiche unwiederholbar waren und dank dessen verließ die Ruthe nie ihren Haken, auf dem sie hing. Oma hörte sich die Beschwerde der Mutter der Mädchen an. An ihrem Gesichtsausdruck sah man, dass sie auf mich sauer war. Irgendwas murrte sie vor sich hin. Opa Kazimierz trat an sie heran. Flüsternd vereinbarten sie etwas. Nach einem Augenblick nahm Opa ein großes Bild, welches an der Wand hing. Opa nahm das Glas heraus und ging zum Haus der geschädigten Frau, um das zerstörte Fenster zu reparieren.
Mein Großvater war ein ruhiger, guter Mensch. Jedesmal bemühte er sich, den Schaden wiedergutzumachen, den ich verursacht hatte. Erst nach Jahren habe ich vom Edelmut und der Großzügigkeit meines Opas erfahren. Das im Jahr 1918 wiedergeborene freie Polen, welches durch 126 Jahre Besatzung zerstört war, brauchte Unterstützung. Es gab viele Polen, die zu Hilfe eilten, unter ihnen auch mein Großvater, der alle besessenen Kostbarkeiten zusammen sammelte und sie dem wieder auferstehenden Vaterland übergab, denn das Vaterland und die Polen sind eins. Oma Ludwika hingegen galt als Anführerin des Hauses. Alles musste so sein, wie sie es sagte. Immer wieder hörte ich, wie sie Opa seine misslungenen Geschäfte mit jüdischen Händlern von vor dem Krieg vorhielt, bei denen er sein ganzes Vermögen verloren hatte. Die Schulden zwangen ihn, sein Hotel und Restaurant in Margonin zu verkaufen. Damals zogen meine Großeltern um nach Tuchola. Opa tat immer so, als ob er Oma ganz demütig anhörte und ihr zustimmte, doch im Endeffekt machte er es so, wie er es für richtig hielt. Sein Lieblingstag war der Sonntag. An dem Tag kam Oma nach dem Mittagessen mit einer Schachtel Zigarren und reichte ihm eine davon. Mit einer großen Zeremonie schnitt er das Ende der Zigarre ab, zündete sie an und delektierte sich daran, während er zufrieden murrte: „Die ganze Woche muss ich darauf warten!"
1925 Margonin. Großvater Kazimierz Biskups Hotel
Sonntag war auch der Tag des Kaffees. Er wurde in einer Mühle mit Schublade gemahlen und danach in einer Kanne, die mit einer großen Art Mütze bedeckt war, gekocht. Den Kaffee trank man im Speisezimmer am runden Tisch, über dem ein wunderschöner Kronleuchter mit einer Gaslampe hing. Die „Kanne im Anzug“ stand auf einem hölzernen Untersetzer mit Füßen. Die aufgewärmten Kaffeetassen des Sonntags-Service warteten schon. Nachdem der Kaffee eingeschenkt worden war, wurde die Kanne gleich wieder angekleidet. Anschließend trat Oma majestätisch an den riesengroßen Geschirrschrank heran und holte etwas Süßes zum Kaffee heraus. Woher hatte sie echten Kaffee? Und Opas Zigarren? Ich weiss es nicht. Vorstellen könnte ich mir, dass sie von Tante Iza aus Hamburg kamen.
Winter bedeutete nicht nur Schneeballschlachten und Schlitten fahren. Die zugefrohrenen Teiche lockten. Ach, wie wunderbar es wäre, Schlittschuhe zu haben! Davon träumte ich. Doch es war Krieg und auf solch ein Weihnachtsgeschenk konnte ich nicht zählen. Also beschloss ich, mir meine eigenen schönen Schlittschuhe aus Holz zu bauen. Opa bat ich um eine alte Zigarrenschachtel. Ihre Trennwände schnitt ich aus, mit Schnüren befestigte ich sie an den Schuhen, um dann auf dem Eis umher zu rutschen und den Neid der Jungs zu wecken. So stellte ich es mir vor. Vorsichtig stellte ich mich aufs Eis und ... fast gleichzeitig hörte ich: klapp, klapp! Unter meinem Gewicht zerbrachen die Brettchen. Nicht mal einen Schwung habe ich gemacht! Meine wunderbaren und ersehnten Schlittschuhe waren zu nichts zu gebrauchen. War ich enttäuscht! Bis heute erinnere ich mich an den bitteren Geschmack des Misserfolgs.
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