»Try draniu!«, lautete die Erste, gefolgt von einer Zweiten, welche gemäß dem Zeitstempel nur eine Minute später abgesandt worden war: »Dobrze ci tak.«
Darius hätte sich liebevollere Abschiedsworte gewünscht und musste begreifen, dass auch Anjela sich in den Chor der bitterlich Enttäuschten einreihte. Sie würde genauso hinter ihm herziehen wie all die anderen Verflossenen. Darius fand darin Trost, dass Anjela im Grunde nicht besser zu ihm gepasst hatte als jede der bisherigen Liebschaften. Bereits der kleine Zeitabstand um einige Stunden, der nach ihrem Abgang entstanden war, reichte ihm aus, auf ihre Beziehung etwas nüchterner zurückzublicken. Das Einzige offenbar, dass sie wirklich verbunden hatte, war das Polnische. Sie war Polin, wie er gebürtiger Pole war, ungeachtet des österreichischen Passes, den er besaß. Mehr und mehr wurde ihm klar, dass sie während der ganzen Zeit nur auf Polnisch miteinander gesprochen hatten. Ihr sozialphilosophisches Gerede, ihre tiefgründigen, nie endenden Vorträge über Ansichten und Einsichten der Gottväter ihrer Geisteswissenschaft stellten sich am Ende als Testläufe dar und Darius hatte als ihr Sparringspartner herzuhalten. In dieser Erkenntnis wünschte er sich nichts sehnlicher, als dass Anjelas Mühe sich gelohnt haben sollte und sie doch noch einen Ruf auf einen Universitätslehrstuhl in Krakau, Posen, Danzig oder Warschau erhielte. Dann erst könnte sie dauerhaft auf Polnisch lehren, ihre Studenten von Habermas, Heidegger oder den weniger bekannten Gurus begeistern, und Darius würde ihr niemals wieder begegnen. In dieser Hinsicht glaubte er dennoch nicht an Utopien und an konkrete schon gar nicht. Von den vermeintlichen Segnungen des überstandenen Sozialismus sah Darius sich geheilt wie wohl die meisten seiner Landleute auch. Wen in Warschau oder in einer anderen Universitätsstadt Polens interessierte Bloch? Auch auf Polnisch klang der Begriff 'Frankfurter Schule' furchtbar deutsch und bliebe auf ewig ein Reizwort historischer Verdammnis. Wohl deshalb konnte Anjela mit ihren bisherigen Bewerbungen um freie Professorenstellen an Polens Universitäten niemanden überzeugen und auf einen Ruf sollte sie aller Voraussicht nach ihr Leben lang vergeblich warten müssen. Wie durch eine unangenehme Vorbestimmung festgelegt, bedeutete es eine Frage der Zeit, bis Darius ihr an jedem beliebigen Platz in Berlin und Umgebung wieder zufällig begegnen würde. »Try draniu«, wäre dann abermals alles, das von seiner Großherzigkeit übrig bliebe. Darius vergaß zu rudern und in Ufernähe drehte ein sanfter Wirbel im Wasser das Boot langsam im Kreis. Er schloss Anjelas Nachrichten auf dem Sichtfeld und versuchte, nicht weiter an sie zu denken. So ließ er sich vom Panorama der Havellandschaft einnehmen und lernte von Neuem das Glück, das ihm zugefallen war, zu schätzen. Das Landhaus, in dem er lebte, das größte und schönste weit und breit, erstrahlte im Sonnenlicht. Auch vor dreihundert Jahren hätten Waldschlösschen und Sommersitze kaum prunkvoller gebaut werden können. Die Nettelblaads hatten dem Gutsbetreiber ein unwiderstehliches Angebot unterbreitet, das ihm inzwischen einen glücklichen Lebensabend als Rosenzüchter auf St. Marteen ermöglichte. Anstelle des Gehöfts ließen Erikas Großeltern in ihrer herrschaftlichen Art die Mitgift in Ausgestaltung dieses prachtvollen Anwesens für die künftige Familienplanung ihrer Enkelin errichten. Deshalb glich auch das weiträumige Grundstück bis hin zum Ufersaum einem durchdachten Park, welcher sich zu jeder Jahreszeit vorbeifahrenden Ausflugsschiffen als beispielhaftes Schaustück der Gartenkunst präsentierte. Wie zur Untermauerung des Besitzstatus lag davor die 'OTTOMAR' vertäut an einem mächtigen Bootsanleger, der gut und gern noch Platz für zwei weitere Motorsegler gleicher Größe bot. Luxus und Pracht, wohin immer das Auge blickte. Bis auf das kleine Fischerhaus am Rand, das nun als Gästehaus diente, sowie der Porsche in der Garage gehörte Darius nur das wenigste von alledem. Der Zwillingstöchter und der obligatorischen Begleitperson wegen lief der BMW nicht auf seinen Namen, sondern wurde aufgrund von Vertragsklauseln sowie aus Sicherheitsgründen von Erika gestellt.
»Du wirst zur Made im Speck! Dich werden sie niemals wieder los«, hatte Tarik ihm bei der Hochzeit zugeflüstert und ihm die Ringe gereicht. Sein Trauzeuge hatte bislang recht behalten. Wäre die Aushandlung des Ehevertrags den üblichen Weg gegangen, hätte Darius auf sich allein gestellt ziemlich unbedacht unterschrieben. Mit einer beträchtlich dahinschwindenden Millionenabfindung unter Abtretung aller Rechte würde er nun andernorts für ein paar Jahre ein gutes Leben führen und in fernerer Zukunft alles verloren haben. Doch im Vorfeld der Eheplanung hatte Tarik ihm die Vertragsverhandlung aus der Hand genommen und sich um alles Weitere gekümmert. Der Hochzeitstermin war daraufhin mehrmals verschoben worden, so erbittert hatten die Unterhändler miteinander gerungen. Obwohl die recht bescheidene Anwaltsrechnung das wahre Ausmaß der Auseinandersetzung nicht widergespiegelt hatte, war Tarik tatsächlich alles andere als ein Einzelkämpfer geblieben. Ohne sich klar darüber zu äußern, hatte er wohl auf eigene Rechnung in seine Strategie unverkennbar auch die Härte und Durchtriebenheit versierter angloamerikanischer Scheidungsanwälte einfließen lassen und damit die Justiziare der Gegenseite niedergerungen. Letztendlich hatte Darius sein Patent nicht aus der Hand gegeben müssen. Neben vielen anderen Vergünstigungen war ihm von der Dynastie für das Verwertungsrecht von geschützter Konstruktion und patentiertem Verfahren im Gegenzug eine uneingeschränkte, unentgeltliche und unbefristete Nutzung an Haus und Grund zuzustehen. Soweit Darius keinen Vertragsbruch beginge, und Tarik würde immerwährend und peinlich genau darauf achten, sollte er im Ganzen für den Rest seines Lebens ausgesorgt haben. Obwohl ihm inzwischen ein Hausverbot für sämtliche Firmensitze und Niederlassungen erteilt worden war, blieb er dennoch auf der Gehaltsliste der Nettelblaad & Eisenhaupt GmbH & CoAG unkündbar als deren leitender Ingenieur eingetragen.
Nach nur noch wenigen Ruderzügen erreichte Darius schließlich den Bootssteg am Fischerhaus. Er hörte durch die offene Tür des Häuschens Bertas Gezeter, die drinnen mit dem Zimmermachen begonnen hatte und noch eine Weile brauchte, um der Unordnung und Zerstörung mächtig zu werden. Vorsichtig schwang Darius sich auf den Steg und schlich geräuschlos am Gästehaus vorbei. Sein Mobiltelefon klingelte und kaum eine Sekunde später lehnte Berta sich erbost aus dem Fenster und ließ ihren Unmut lauthals freien Lauf. Zunächst konnte er kaum verstehen, wer ihn anrief, und erst in einiger Entfernung erkannte er Tariks Stimme.
»Läuft das Techtelmechtel mit Deiner Professorin noch?«, erkundigte sich dieser.
»Nein, aus und vorbei!«, antwortete er knapp, und ehe er nachfragen konnte, was Tarik sein Liebesleben anginge, kam der Anrufer auf den eigentlichen Punkt seiner Neugier:
»Du triffst Dich heute mit der Blonden, hast Du mir neulich erzählt. Kam der Vorschlag für das Treffen von Dir oder von ihr?«
Darius musste kurz überlegen. Ihm wurde allmählich bewusst, dass Tarik einen unangenehmen Verhörton angeschlagen hatte.
»Ich glaube, der Vorschlag kam von ihr«, erinnerte er sich und blieb darüber verunsichert, worin jemals eine Bedeutung läge, von wem von beiden die Initiative für ein Rendezvous ergriffen werden würde. Weil nur das Ergebnis zählte, hatte er sich über solche Fragen noch nie den Kopf zerbrochen.
»Vergiss sie und such Dir eine andere!«, kommandierte Tarik unvermittelt scharf.
Darius holte Luft, um dagegen zu protestieren. Was fiel seinem alten Freund ein?
»Tue, was ich sage!«, fuhr Tarik ihn an und legte auf, bevor Darius auch nur ein Wort des Widerspruchs dagegen finden konnte.
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