1 ...6 7 8 10 11 12 ...23 Wieder einmal, wenn ihr alles zu viel und zu schwierig wurde, rückten diffuse Zukunftssorgen sowie steter Missmut über ihre bescheidene Lebensleistung mit beständig unerreichten Zielen Karin weit von der Wirklichkeit des Augenblicks ab. Sie nahm kaum wahr, wie sie immer heftiger von den Menschen um sie herum bedrängt wurde, und dass sie sich endlich zu Teufel scheren solle, überhörte sie. Nur die ernüchternde Bilanz ihres Lebens, das ihr vorkam, als bestünde es zumeist aus Fehlentscheidungen, zählte in diesem Moment und das Ergebnis bedrückte sie. Die Wut der Autofahrer und Reisenden, welche sie vermeintlich am Weiterfahren hinderte, ließ sie zunehmend kalt. So hielt sie stoisch und geistesabwesend die Zapfpistole in der Hand wie ein in die Enge getriebener Bankräuber, der die Aussichtslosigkeit der Lage begriff, einen Revolver. Würde dieser damit auf die Verfolger, die Geiseln oder gleich sich selbst in den Kopf schießen? In einer kaum anders deutbaren Unentschlossenheit entfaltete Karin bereits eine abschreckende Wirkung, als wäre sie von Sinnen und bereit, bis zu Äußersten zu gehen. Letztendlich wagte es niemand, sie anzurühren. Der Aufruhr rief endlich das Tankstellenpersonal auf den Plan. Eine erklärende Lautsprecherdurchsage, dass die Tanklager aller Kraftstoffarten nun geleert seien und Nachschub zwar bestellt sei, jedoch an einem Samstagabend nicht geliefert werden könne, verhallte nahezu ungehört. Erst als zwei herbeigeeilte Mitarbeiter die persönliche Ansprache Einzelner in der aufgebrachten Menge suchten, verbreitete die Schreckensnachricht sich wie ein Lauffeuer bis hin zum hintersten Zipfel der Warteschlange. Panik brach aus und die Woge der Entrüstung schwappte über Karin hinweg, um mit aller Wucht in den Verkaufsraum der Tankstelle hinein zu branden. Dort begannen die besonders Starken und Gemeinen unter den Wütenden erbittert mit Ellenbogen, Tritten und Bissen um die wenigen Reservekanister in den Regalen zu kämpfen. Die Siegreichen würden sogleich nach Taxis telefonieren oder unverzüglich und ohne Umwege zu Fuß über Wiesen und Äcker ziehen, um im nächsten Dorf nach einer Tankstelle zu suchen. Angesichts der wilden Rangelei um die Kanister stellte Karin sich vor, dass ihr Ehemann es niemals so weit gebracht haben würde, einen davon für ihre Weiterfahrt zu sichern, denn Ralf kannte sie nicht als Kämpfernatur. Ebenso konnte sie sich kaum ausmalen, ihn ohne Auto eine Besorgung erledigen zu sehen. Wie es offenbar seiner ganz eigenen Art entsprach, schien ihn eine tief eingeschliffene Bequemlichkeit beharrlich vor jeder körperlichen Anstrengung abzuschrecken. Wenigstens noch im Bett wollte Karins Mann sich bis zur Verausgabung erschöpfen, um den ehelichen Pflichten nachzukommen.
Nun in Ruhe gelassen, bestieg Karin den Kombi und setzte das Gespann von der Tankanlage ab. Die Suche nach einer freien Parklücke auf dem überfüllten Rastgelände erwies sich jedoch als aussichtslos. Im Niemandsland der beton- und asphaltversiegelten Fläche, zwischen Straßengräben und Zaun, Müllcontainern und Bänken sah sie Ralf rauchend auf- und abgehen. Offensichtlich konsumierte er die Zigaretten auf Vorrat und mindestens eine halbe Schachtel im Voraus wie in einem Zug, nur um den letzten Rest der Reise ohne Nikotin durchzustehen. Karin, die beinahe alles an Ralf hinnahm, hatte ihm, dem Kettenraucher, das Rauchen in ihrer Gegenwart abgewöhnt. Sie ließ sich noch nicht einmal von ihm küssen, wenn er zuletzt vor Stunden den blauen Dunst inhaliert hatte und kaum noch einen schlechten Atem haben konnte. Karin kümmerte es nicht, zu einem Verkehrshindernis zu werden, und stellte den Wagen neben Ralf ziemlich quer und sperrig an den Straßenrand. Sie stieg aus und fluchte. Dabei meinte sie nicht Ralf, sondern die schreckliche Aussicht, an diesem Ort bis weit in nächsten Tag warten zu müssen. Mit dem Rest an Diesel würden sie keine zehn Kilometer mehr weit kommen und auf der Autobahn stehen bleiben, sollten sie dennoch versuchen, die Fahrt fortzusetzen. Ralf stellte das Rauchen ein und hielt seinen Kopf für Karins Wutausbruch hin, den sie brauchte, um sich wieder einzufinden. Davon völlig ungerührt blieb Ralf jedoch voller Zuversicht, die von der Messeleitung für Nachzügler eingeräumte allerletzte Möglichkeit, die Vorbereitungen bis spätestens Sonntagnachmittag zu treffen, dennoch zu nutzen:
»Wir werden am Sonntagabend keine drei Stunden brauchen, um unseren Stand aufzubauen und am Montagmorgen werden wir den allerbesten Eindruck von uns geben und Aufträge in Massen einfahren.«
»Oh nein, wir werden morgen Abend niemanden mehr finden, der uns in die Halle hineinlässt«, lamentierte Karin des Streitens müde, »wir müssten bis in Nacht warten, bis jemand vom Wach- und Schließdienst käme.« Karins Hoffnung flammte für einen kurzen Moment auf, dann verwarf sie das trügerische Gedankenspiel vom freundlich hilfreichen Wachmann sogleich wieder.
»Vergiss die Messe, Ralf, wir haben verloren! Kein Wächter dürfte uns die Schlüssel geben. Im Grunde könnten wir genauso gut auf der Stelle umdrehen und wieder nach Hause zurückkehren.«
»Wir fahren weiter, sobald wir können!«, beharrte Ralf entschlossen und seine Worte klangen wie ein Befehl, denn schließlich war er der Geschäftsführer der Manufaktur und einen besseren, oder überhaupt einen anderen, würde Karin kaum finden. In der Erkenntnis, dass von Fahren ohnehin keine Rede sein konnte, gab sie keine Widerworte und fügte sich. Sie wollte sich an diesem Tag gewiss keiner Sinnfrage mehr stellen und schreckte vor dem Eingeständnis zurück, einst sich womöglich zu voreilig für Ralf entschieden zu haben. Missmutig und einander die Blicke meidend, gingen nun beide auf und ab. Als Ralf das Gespann hinter dem Anhänger umrundete, blieb er mit einem Aufschrei der Fassungslosigkeit stehen und deutete wütend auf die Ladeklappe. Karin eilte herbei und entdeckte ebenso, dass das Schloss tatsächlich aufgebrochen war und nur zum Schein und ohne Funktion am Schließbügel hing. Offensichtlich waren während des stundenlangen Staus Diebe an ihrer Ausrüstung zugange gewesen. Hektisch und mit einer bösen Vorahnung öffneten Karin und Ralf den Anhänger, um das Ausmaß der heimtückischen Plünderung in Augenschein zu nehmen. Beide brauchten darüber kein Wort zu verlieren, um zu wissen, dass unversehens ihre ganze Existenz auf dem Spiel stand. Wunderbarerweise erwies der Schaden sich jedoch als äußerst überschaubar. Das Material für den Messestand war unberührt geblieben und jedes Einzelteil hing oder steckte noch an dem dafür vorgesehenen Platz. Nur einige Warenkisten und Schachteln waren aufgerissen, vom Inhalt jedoch fehlte nichts. Nicht eine der Kuckucksuhren war gestohlen worden und an den drei Standuhren, die sie mitführten, hätten die Diebe sich ohnehin einen Bruch gehoben. Die einzigen Dinge, die fehlten, waren im hinteren Teil des Anhängers ein Besen mit Kehrichtschaufel sowie ein Schrubber. Karin erinnerte sich noch genau daran, dass sie die Reinigungsutensilien beim Beladen dort hinten in einen der beiden Putzeimer gestellt hatte.
»Schwaben! Wer sonst käme bei einem Einbruch auf einen dermaßen kranken Einfall, ausgerechnet Putzmittel zu stehlen?«, kommentierte Ralf nüchtern und ohne den traurig sarkastischen Hintersinn dieser Feststellung für den Moment selbst zu begreifen. Karin hingegen lachte laut und befreit auf, denn sie musste ihrem Mann recht geben:
»Was längst zu beweisen war! Unbestreitbar ist die schwäbische Kehrwoche Gruppenzwang der grausamsten Art und treibt selbst Diebe in den Wahn. Was für ein unfassbares Glück hat mich getroffen, dass Lotta und ich dank meines Vaters nur Hereingeschmeckte sind. Wir Badener haben mit Württembergern wirklich nichts gemein!«
Die Erleichterung und Fröhlichkeit, die beide nun ergriff und sie mit noch weiterem Spott über die Schwaben witzeln ließ, hielt nicht lange an. Eine neue Erkenntnis, welche dieser Zwischenfall ebenso mit sich gebracht hatte, drängte sich ihnen unausgesprochen auf und verdarb ihnen allmählich die Freude. Waren die Uhren tatsächlich so wenig wert, dass nicht einmal Diebe diese mitnähmen? Wem erst wollten sie ihre Warenkollektion dann gegen Geld verkaufen, und würden sie während der Messe überhaupt auch nur eine Order in das Auftragsbuch schreiben? Mit Schrecken beschlich Karin eine Ahnung, dass sie auf ihrem neuen Verkaufsstand, der mit hohen Zinsen nur auf Kredit vorfinanziert war, tagelang dazu verdammt wären, sich die Beine in den Bauch zu stehen. Finanziell befand sich ihr Unternehmen hart am Abgrund und auch für die Bank, die kaum noch stillhielt, galt diese Verkaufsreise als Nagelprobe. Wenn nicht in Berlin auf der 'AMBIENTERIA', wo sonst konnten sie für den langersehnten Umsatz sorgen. Auch Ralf war still und nachdenklich geworden. Sorgenfalten sah Karin in seinem Gesicht selten. Nun fühlte sie sich dazu bewegt, ihn aufzumuntern:
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