»Genau zwischen die Augen«, sinnierte Kurt mit Bewunderung im Unterton, »Erika hätte ich das Kunststück zugetraut.« Dann schmauchte er mit anerkennendem Nicken still in sich versunken weiter, denn Kurt war eben noch nie ein Freund vieler Worte gewesen. Darius achtete kaum auf die Bemerkung, viel eher kam ihm der Musiktitel und die ganze Geschichte, die sich damit verband, wieder in den Sinn. Berta hatte sie ihm viele Male erzählt. Als sie auf Kuba gewesen war, hatte es Kurt allein und ohne sie kaum ausgehalten. Das Doppelalbum, von dem er im Westradio gehört hatte, in seine Hände und von dort auf einen Plattenteller zu bekommen, war ihm der Versuch einer Republikflucht wert gewesen. Der Hängegleiter, der von einem Freund aus Abfallstoffen und Lattenrosten gezimmert worden war, hatte sein Gewicht kaum getragen, das Schleppseil war viel zu kurz und der Trabant viel zu langsam und zu schwach gewesen. Dass Kurt bereits kilometerweit vor der Sperrzone mit dem Gleiter niedergegangen war, war strafmildernd bewertet worden. So war er nur zwei Jahre in Bautzen eingesessen, ehe ihn die Volksgemeinschaft des Arbeiter- und Bauernstaates geläutert wieder zurück auf die Felder geschickt hatte. Ein Jahr länger als vorgesehen von seiner lieben dicken Berta getrennt gewesen zu sein, bereute Kurt noch immer verbittert, wann immer er auf seine Vergangenheit angesprochen wurde, wäre die wirkliche Strafe gewesen. Wie dumm wäre er damals gewesen! Nach einer Weile erst begriff Darius, dass Kurt eben von der toten Wildsau in seinem Garten hinter dem Haus gesprochen hatte.
»Anjela hat es erlegt«, erklärte Darius freimütig und gab zu, benebelt vom Alkohol wohl das Gästehaus getroffen zu haben.
»Anjelas einziger Schuss und nichts anderes als ein Zufallstreffer!«, kommentierte Darius noch hastig hinterher, um sich vor Kurt im Vergleich zu Anjela nicht völlig unbedarft erscheinen zu lassen. Mit Erika konnte er tatsächlich nicht mithalten. Seine von ihm geschiedene Frau war in Kanada aufgewachsen und hatte dort das Jagen und Angeln bereits im Kindesalter erlernt. Wenn sie neuerdings ihren Vater zweimal im Jahr zur Bärenjagd auf Kamtschatka begleitete, unternahm sie solche Reisen um die halbe Welt nicht zuletzt deshalb, um Kindheitserinnerungen zu wecken. Im Eigentlichen jedoch ging es bei diesen Unternehmungen nicht um die Jagd, sondern um Geschäfte vornehmlich mit Russen, Chinesen, Koreanern, Amerikanern und Kanadiern. Als spätere Alleinerbin und künftiges Haupt des Unternehmens musste Erika von ihrem Vater allmählich aufgebaut und an solche Geschäftspartner herangeführt werden. Anjela hingegen war in Warschau als Stadtkind groß geworden. Vermutlich zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie in der vergangenen Nacht ein Jagdgewehr im Anschlag gehalten, geschossen und zweifellos zufällig getroffen.
»Die Wildsau ist ein Überläufer, nicht allzu groß und würde und ausgenommen in eine Kühltruhe passen«, bemerkte Kurt, der sich nun vorbeugte, als wollte er Darius überreden.
»Du bist Tabakpflanzer und kein Fleischer«, winkte Darius ab, »Berta würde sich gehörig bei Dir für die Sauerei bedanken, die Du ihr damit aufbürdest. Wir werden klüger sein, nachher den Kadaver in den Fluss zu ziehen und abtreiben zu lassen. Wir verfahren damit genauso wie die anderen, und wenn wir Glück haben, wird Deine Frau davon nichts gesehen haben.«
Darius' Ablehnung klang wie eine Ausrede. Tatsächlich ekelte ihn der Gedanke, dass bereits Ratten an dem toten Tier genagt haben könnten, obwohl ihm Kurts Vorschlag einer kulinarischen Verwertung durchaus durchdacht erschien. So gäbe es außer Küchenabfällen keine Spuren und deshalb kein weiteres Gerede in der Nachbarschaft. Auch ohne dies bildeten Wildschweine seit Langem das einzig hitzige Thema in der Waldsiedlung, denn alle waren davon betroffen und niemand blieb verschont. Vornehmlich nachts und neuerdings tagsüber fielen mit wachsender Hemmungslosigkeit Wildschweinrotten aus der umliegenden Natur in die Siedlung ein und wüteten, wie es ihrer Art entspricht. Zäune, Hecken, Beete, Rasenflächen, Müllplätze wurden gierig nach Fressbarem durchwühlt, um der überhandnehmenden Nachkommenschaft Nahrung zu bieten. Diese bedankte sich dafür ihrerseits bereits nach wenigen Monaten mit eigenen Frischlingen. Darius selbst hatte erst vor einigen Wochen für viel Geld einen neuen Rasen verlegen lassen müssen, nachdem eine Schweinerotte über den Fluss schwimmend auf seinem Besitz angelandet war. Die massive Umzäunung des Anwesens gegen Zutritt Unbefugter hatte sich umgehend als Verschlimmerung seines Unglücks erwiesen. Gehindert am zügigen Weiterziehen war in einer anderen Nacht eine Rotte allein bei ihm mit apokalyptischer Zerstörungskraft zugange gewesen. Unvermeidlich waren tags darauf zum Schaden viel Spot und Schadenfreude der Nachbarn hinzugekommen. Darius, der kaum Leidenschaft für die Jagd empfand, hatte sich deshalb dazu entschlossen, ein Exempel zu setzen und aufzurüsten. Er hatte sich von Erika ein Gewehr und Munition geben lassen, denn schließlich lag es vertragsgemäß in seiner Verantwortung, weitgehend ihren Grund und Boden zu pflegen, erhalten und zu schützen.
Im Umgang mit der Schweinefrage zeigte sich die Einwohnerschaft der Waldsiedlung ziemlich übereinstimmend mit ihrer Herkunft tief in zwei Lager gespalten. Ein Teil der Menschen, die hier lebten, waren bereits zu DDR-Zeiten mit ihren Familien als höhere Offiziere der NVA, des Staatssicherheitsdienstes oder als Führungskader der Partei zugezogen. Die Wohngegend, welche einst aus einem kaiserlichen Jagdrevier hervorgegangen war, galt bereits in der Nazizeit als gehoben und insbesondere wegen der Abgeschiedenheit und der Nähe zum Wasser als bevorzugt. Hier lebten die Menschen ungeachtet des Zeitenwandels bis noch vor einem Jahrzehnt vornehmlich unter ihres gleichen. Allesamt besaßen die Alteingesessenen voll bestückte Waffenschränke. Schüsse in der Nacht gehörten hier zum guten Schlaf dazu und schreckten kaum noch jemanden auf. Zwischen Abenddämmerung und Morgengrauen wurde auf alles geschossen, das Einbrecher hätten sein können: Tauben, Birkhühner, Enten, Kormorane, Graureiher und natürlich Wildschweine. Alarmierte Polizeistreifen kamen schon lange nicht mehr. Gelegentliche Anzeigen wurden unter Hinweis auf das Recht der Selbstverteidigung in den meisten Fällen nicht weiterverfolgt. In diesem Sinne und mangels Zeugen etwa war eine entsprechende Klage gegen Darius' Nachbarn zur rechten Seite des Grundstücks bald wieder fallengelassen worden. Seither galt dieser alte, halsstarrige, einäugige, schwerhörige und uneinsichtige, ewig gestrige Betriebskampfgruppengeneral in Pension als ebenso unantastbar wie schießwütig. Darius mied den Kontakt zu ihm, konnte jedoch im Gegenzug darauf vertrauen, auch von ihm in Ruhe gelassen zu werden.
Hingegen entsprach Darius' Nachbarfamilie zur linken Seite mustergültig dem zweiten gängigen Einwohnertypus der Waldsiedlung. Dieser ergab sich nahezu vollständig aus Zugezogenen aus dem Westen. Zumeist im mittleren Alter, mit Familie und halbwüchsigen Kindern arbeiteten sie als höhere Beamte oder wissenschaftliche Angestellte in Ministerien, Landes- oder Bundesämtern sowie den Hochschulen. Nach außen hin und ihrer gesellschaftlichen Verantwortung um das Gemeinwohl folgend nahmen diese Neubürger alles sehr regeltreu in die Hand: Sie schossen nicht auf Schweine, sondern schrieben Petitionen und organisierten Bürgerinitiativen. Mit solchen Aktionen kamen sie oft und gern in die Medien und genossen ihre Selbstdarstellung im Licht der Öffentlichkeit. Der Schweineplage konnten sie damit jedoch nicht Herr werden. Weitgehend billigend und mit wortloser Unschuldsmiene begannen sie insgeheim dann doch auf die Erfahrung der alten Mauerschützen zu setzen und ließen von diesen mit unausgesprochenem Schießbefehl das Problem standrechtlich lösen. Als erforderte das Hinwegsehen einen Ausgleich, zeigten die Neubürger jedes andere, noch so kleine Vergehen um so leichtfertiger an, wie Falschparken oder Lärmbelästigung durch Rasenmähen zur Mittagszeit. Ausgerechnet Darius' Nachbarin, Ehefrau eines Konzertdirigenten, selbst erklärte vegane Tierschützerin und zu allem Übel dazu Grundschullehrerin mit ausgiebiger Freizeit am Nachmittag, hatte sich in dieser Hinsicht als besonders streitsüchtig und gefährlich erwiesen. Als seine Töchter vor Jahren eine Übernachtungsparty gegeben hatten, war ein anwaltliches Schreiben gefolgt, in dem die Lehrerin rechtliche Schritte hatte ankündigen lassen, sollte sie sich in ihrer Nachtruhe ein weiteres Mal gestört fühlen. Damit war sie jedoch bei Darius' geschiedener Frau an die Falsche geraten. Kurzum hatte Erika gleich die namhafteste ihrer Unternehmenssozietäten damit beauftragt, der überempfindlichen Pädagogin ihre Vorstellung von guter Nachbarschaft nahezulegen. Seither herrschte eine Art von Waffenstillstand. Die Veganerin schaute zwar dann und wann noch neugierig über den Zaun, denn nachmittags blieb ihr reichlich Zeit, und Darius grüßte ihr freundlich zu, sonst jedoch zeigte sie sich eingeschüchtert. Nichtsdestoweniger versprach der trügerische Frieden, nur brüchig zu sein, denn die Nachbarin schwor bestimmt auf Rache und würde Darius' geminderten Rückhalt nach der Scheidung bereits bei der nächstbesten Gelegenheit leidlich ausnutzen.
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