Das knarrende Gartentor und leise Schritte im Kies auf dem Weg vor dem Haus schreckten Darius auf. Er ahnte die Peinlichkeit, als ginge Anjela auf und ab, als zögerte sie. Große Unruhe befiel ihn, nicht nur deshalb, was die Nachbarn denken mussten. Wollte sie ihn locken, damit er aufstünde, ihr nachliefe und sie in die Arme nähme? Alles wäre nur ein Missverständnis, denn beide waren sie müde und zu betrunken gewesen. Ein Streit im Alkohol ist niemals der Rede wert. Doch daran lag es nicht. Sie waren eben nicht füreinander bestimmt und die Regel, dass Gegensätze sich einander anziehen, hatte bei ihnen am Anfang Bestand und galt nicht für die Ewigkeit.
»Geh doch endlich!«, flehte Darius leise und vergrub sein Gesicht tief im Kissen, »lass mich endlich zufrieden mit Bloch und Habermas und Deinem ganzen intellektuellen Gewese!« Er konnte ihrem Maß nicht gerecht werden. Wären die Lehrer der Frankfurter Schule zwar erwiesenermaßen geniale, jedoch ein wenig in Vergessenheit geratene Erfinder, Konstrukteure oder nur einfache, patente Ingenieure gewesen, hätte er vor Anjela gerade noch bestehen können. Unterlegen in Eloquenz hätte er mit biederem, sprödem Fachwissen sowie überspielten Wissenslücken dagegengehalten. Habermas und Heidegger hatten zu sehr nach Leuten aus der Technik geklungen und so war ihm leichtfertig der Fehler unterlaufen, sich aus den Untiefen eines belanglosen Bargeplauders leiten zu lassen. Zuvor hatte Darius urplötzlich gespürt, dass er sie zu langweilen begann und sie daran gewesen war, zu gehen. Aus Angst, die Eroberung zu verlieren und um sie tiefer in ein Gespräch zu verwickeln, hatte er sie unbedacht nach Bloch gefragt und was sie von ihm hielte. Darius kannte sonst keine Soziologen oder Sozialphilosophen und bestünde keine zufällige Namensgleichheit mit einer Serienfigur im Fernsehen, wäre er überhaupt auf niemanden aus dieser Richtung gekommen. Unversehens war daraufhin der Flirt seiner Herrschaft entglitten und die Unterhaltung über den Weg einer kurzen Diskussion und dann doch und unabänderlich zu Anjelas überlegenem sozialwissenschaftlichen Exkurs gewandelt. Schließlich war daraus noch am selben Abend ein im Weiteren über Wochen und bis zuletzt wie gefühlt ununterbrochener Monolog entwachsen. Von Anfang an hatte Darius ihr nur sein Ohr hingehalten und versucht, interessiert dreinzuschauen. Von gesellschaftsökonomischen Umwälzungen und konkreten Utopien verstand er nichts und wollte auch nichts wissen. Niemals wieder würde er die unsägliche Mühe, den Wissbegierigen zu mimen, auf sich nehmen, nur um mit einer Frau ins Bett zu kommen und sollte sie noch so schön und begehrenswert sein. Und das traf auf Anjela fraglos zu. Mit Mitte dreißig war sie gute zehn Jahre jünger als er und äußerlich voll blendender Ausstrahlung. Ihre in einem womöglich letzten Anflug erscheinende Jugendlichkeit gepaart mit der ganzen Lebenserfahrung einer gestandenen Universitätsdozentin bestimmten den ersten Eindruck und unwiderstehlichen Reiz, dem Darius sich nicht hatte erwehren können. Anjela bedeutete ihm genau die Art von Frau, welche sein Sammlerherz begehrte. Sie in sein Haus, in sein Schlafgemach, Walhall und Himmelreich zu bringen, entsprach einem Wettkampfstreben, gleichwohl eine weitere Trophäe in die Vitrine errungener Siegespokale zu stellen. Das Jagdfieber hatte ihn gepackt, er musste sie gewinnen und nur die Eroberung zählte. Nach außen hin waren sie stets in bewundernswerter Zweisamkeit erschienen, eben als ein Traumpaar. Tatsächlich hatte Darius sein 'animalisches' Mannsein in vollen und selbstsüchtigen Zügen ausgelebt, bis der Reiz am Lustobjekt verflogen war und die Suche nach einem neuen begann. Ohne Zweifel hatte er sich während der vergangenen zwei Jahre seit der Scheidung und der damit wiedererlangten schier grenzenlosen Freiheit wiederholt, unverbesserlich und mit großem Eifer unehrenhaft verhalten. Wenn einige der Verflossenen ihn inzwischen als ausgemachtes Schwein bezeichneten und übelst über ihn herzogen, durfte er sich nicht beklagen, denn sie alle kannten guten Grund dazu. Was jedoch Anjela betraf, ließe er sich gewiss nichts nachsagen. Ihr gegenüber war er anständig geblieben, großherzig und duldsam, wie er fand. Denn Anjela versprach er nicht die Ehe, ein leichtes Leben in Wohlstand und angestrebten gemeinsamen Kindern ein treusorgender Vater zu werden. Gegenüber Anjela brauchte er sich nicht als Fels in der Brandung verkaufen, als Universalversorger und Lebensversicherer. Gesellschaftlich gefestigt stand Anjela zu ihm mindestens auf Augenhöhe, eher sogar darüber. Sie hätte sich gewiss nicht mit ihm abgegeben müssen, um sich zu verbessern. Wahrscheinlich wirkte gerade deshalb ihre Unabhängigkeit und Eigenständigkeit wie ein Reizverstärker, mit dem sie Darius zusätzlich anstachelte. Mit Anjela war es ihm offenbar ein zweites Mal gelungen, eine Frau zu finden, die ihn allein seinetwegen und nicht des Geldes wegen anzunehmen schien. Mehr noch als bei seiner geschiedenen Gattin, die ihn einst aus einem Grund geheiratet hatte, den er lange nicht verstand, spürte er zuletzt bei Anjela ein Hauch von Gewissheit und Selbstbestätigung.
»Bilde Dir bloß nichts ein!«, murmelte Darius sich in ernüchternder Selbsterkenntnis zu, hob die Decke und blickte auf seinen Schmerbauch. Nein, er war gewiss kein Adonis und kam sich beinahe vor wie ein Buddha. Bereits in jungen Jahren war er wegen seiner wenig beeindruckenden Erscheinung beim Werben um Bekanntschaften oft genug im Nachteil gewesen. Nicht gerade groß gewachsen, etwas krummbeinig, buckelig und mit früh schütter werdendem Haarwuchs lernte er schnell, meistens von vornherein zu verzichten und den Spaß auf später zu verschieben. Das Rennen machten derweil jedoch andere und das Später erwies sich immerfort als Vertrösten auf die Ewigkeit und als Warten bis zum Sankt Nimmerleinstag. So war er zwangsläufig zu einem Streber geworden, dem nichts anderes übrig blieb, als das Lernen und Studieren und mit Fingerfertigkeiten und technischer Begeisterung sein Ingenieurstalent zur Vollendung zu formen. Genau genommen hatte sich der Erfolg bei Frauen für Darius erst in späten Jahren eingestellt und besonders ausgiebig nach der Scheidung. Die Gier nach ständig neuen Liebschaften musste sich seitdem aus einem übergroßen Nachholbedarf schöpfen und tatsächlich empfand er dabei mehr Freude und Erfüllung, als er in jungen Jahren je gefunden hätte. Das Knirschen von Anjelas Schritten im Kies ebbte ab wie ein Pendelschlag, welches rasch an Schwung verlor. Schließlich hörte Darius nur noch die Blätter der Birken rund um sein Haus in einem leichten Morgenwind rauschen und das lose Gartentor schlug quietschend den Takt dazu. Von einer Ahnung aufgeschreckt richtete er sich auf. Anjela konnte sich gewiss nicht in Luft aufgelöst haben. Ungelenk kroch er aus dem Bett und schlich grundlos geduckt und übervorsichtig zum Fenster, dessen Flügel offenstanden und vor dem der Rollanden bis auf schmale Spalte heruntergelassen war. Mit angehaltenem Atem spähte Darius hinaus. Gegen den Zaun gelehnt wühlte Anjela in ihrer Handtasche. Darius sah ihr die Erregung, die Wut und Enttäuschung an. Endlich zog Anjela ihr Telefon heraus und begann, darauf einzutippen. Unerbittlich wandelte die Ahnung sich in ihm zur Gewissheit und auf der Suche nach seinem eigenen Mobiltelefon sprang er jäh zurück und stürzte über die Bettkante hart zu Boden. Dabei riss er die Weinflasche um, die sie mitten in der Nacht nach einem Schlummertrunk vor dem Bett abgestellt hatten. Die zerberstenden Gläser daneben, deren Scherben sich in das Fleisch eines Handballens drückten, ohne zum Glück tief einzuschneiden, gaben mit lautem Klirren ein Übriges zum Lärm, den Darius unbedingt vermeiden wollte. Zu allem Überfluss schrie er vor Schmerz lauf auf. Dennoch gelang es ihm, mit der unverletzten Hand gerade rechtzeitig nach dem Telefon zu greifen, das auf einem Ankleidestuhl zuoberst auf der Wäsche lag. Noch ehe das Gerät einen Laut von sich geben konnte, schaltete er es aus und fühlte dessen kurze Vibration mit eingestelltem Sende- und Empfangsbetrieb als Rettung in der Not. Regungslos blieb er liegen, ließ Stille einkehren, so als wäre nichts geschehen und doch zeigte er damit Anjela das Ende ihrer Beziehung überdeutlich. Darius fühlte sich nicht gut dabei. Ein leiserer Ausklang hätte noch als Zeichen der Achtung gegolten. Eher als Ausdruck seiner Bequemlichkeit wäre im Stillen der Schlussstrich leichter gezogen worden. Von Anjela vernahm er lange nichts weiter, an ihrer statt das Rauschen der Bäume im Wind. Wie aus Boshaftigkeit, schien es ihm, ließe Anjela ihn liegen. Nach einer gefühlten Ewigkeit hörte er erlösend das Heranrollen eines Fahrzeugs. Türen schlugen im bekannt dumpfen und satten Ton eines Taxis und Anjela fuhr endlich davon. Mit Mühe wälzte Darius sich aus seiner Rückenlage auf die Beine und gab sich einem Wunschdenken hin. Anjela hätte nichts anderes unternommen, als nur nach dem Taxi zu telefonieren und ihm gar keine Nachricht gesendet. Wahrscheinlich hätte sie ihn auch nicht fallen hören. So schlecht schien der Tag also nicht begonnen zu haben.
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