Jane Willkins war Polizistin, sie hatte sich um ihn gekümmert, nachdem ihn seine Tante damals allein zurückgelassen hatte. Jane war eine echte Freundin und das Beste: sie konnte Veyron auch nicht besonders gut leiden. Zu ihr war Veyron auch jedes Mal recht gemein, wenn sie miteinander zu tun hatten. Darum also zu Jane.
Tom ging bis zur nächsten Bushaltestelle und wartete. Dabei fiel ihm ein Mann auf, der ganz in der Nähe an einem Laternenpfahl lehnte und telefonierte. Immer wieder schaute der Herr zu ihm herüber. Als Tom den Blick erwiderte, drehte sich der Mann um und sprach leise in sein Telefon. Das kam ihm seltsam vor, ein unangenehmes Gefühl beschlich ihn. Mit diesem Kerl war irgendetwas nicht in Ordnung, das sagte ihm seine Intuition.
»Sei nicht albern«, ermahnte er sich, »was sollte irgendwer von dir wollen, Tom Packard? Wahrscheinlich ist es einfach nur ein Spinner.« Trotzdem wollte er die Augen offenhalten.
Mit einem typisch knallroten Londoner Stadtbus ging es zur nächsten Underground-Station. Einige Haltestellen später war er endlich in Ealing. Den komischen Kerl hatte er im Bus nicht abschütteln können und auch in der Tube nicht. Er stieg sogar in den nächsten Bus ein, der Tom in die Reigate Street brachte. Wurde er tatsächlich verfolgt? Das Verhalten dieses Mannes kam ihm jedenfalls sehr verdächtig vor. Die Geschichte der Prinzessin kam ihm wieder in den Sinn, wie sie tagelang von Medusa verfolgt wurde. Erging es ihm hier ähnlich? Hatten Iulias Feinde sie etwa auch bis nach London verfolgt? Vielleicht war es aber auch irgendein verrückter Stalker. Als sein neuer Schatten diesmal jedoch nicht ausstieg sondern weiterfuhr, verflüchtigten sich Toms Sorgen wieder.
»Offenbar werde ich langsam paranoid. Es leben acht Millionen Menschen in der Stadt und der Typ war ja nicht der Einzige, der mit dem gleichen Bus und der Tube gefahren ist«, sagte er sich.
Jane Willkins Wohnung lag im vierten Stock von 270b Reigate Street, einem schmucklosen Wohnturm aus den Siebzigern. Dort lebte sie mit ihrem aktuellen Freund, Alex Finchley. Tom kannte ihn nicht besonders gut, denn er arbeitete sehr viel, war nur wenig zu Hause. Die Wahrscheinlichkeit lag daher hoch, dass er Jane allein antraf. Sie würde bestimmt nichts dagegen haben, wenn er übers Wochenende bei ihr blieb.
Er trat zur Eingangstür, klingelte. Es verging ungewöhnlich viel Zeit, ehe sich Janes helle Stimme an der Sprechanlage meldete.
»Ja?«
»Ich bin’s, Tom. Kann ich reinkommen?«
»Tom! Warum … ach, egal. Komm rauf.«
Die Haustür summte und Tom drückte sie auf. Das Treppenhaus war stockfinster, nur zögerlich sprangen die Bewegungsmelder an, eine Lampe nach der anderen begann zu glühen. Es roch nach Putzmittel und altem Schimmel.
Tom nahm den Lift, eine Klaustrophobie hervorrufende, enge Kabine mit billiger Holzimitat-Vertäfelung. Sie ruckelte fürchterlich und er war heilfroh, als er endlich oben ankam.
Jane stand in der offenen Wohnungstür, nur in einen Bademantel gewickelt. Ihre dunklen Haare waren noch feucht und sie hatte sie hochgesteckt. Offenbar kam sie gerade aus der Dusche.
Ein atemberaubender Anblick , wie es Tom durch den Kopf schoss. Jane war von bewundernswerter Schönheit, obwohl sie ziemlich genau doppelt so alt war wie er. Ihre großen, dunklen Augen musterten ihn skeptisch.
»Was machst du denn hier? Es wird gleich dunkel, solltest du nicht längst zu Hause sein?«, begrüßte sie ihn und bat ihn, in die Wohnung zu kommen.
»Ich hab Stress mit Veyron«, lautete seine knappe Antwort. Er schlüpfte an ihr vorbei, ging ins Wohnzimmer und ließ sich auf die alte Couch fallen. Sie war so durchgesessen, dass er hart auf dem Gestell aufschlug. Den kurzen Schmerz ignorierte er, verfluchte das alte Ding jedoch heimlich.
»Ist Alex nicht da?«
»Er musste übers Wochenende auf ein Seminar, rüber auf den Kontinent. Mainz, glaube ich. Du weißt ja, er arbeitet fürs Fernsehen.«
»Als Kabeltechniker. Ist er auf einem Kabelkongress?«, warf Tom sofort ein.
Jane presste die Lippen zusammen, ihr Blick verriet ihm, dass es um ihre Beziehung nicht zum Besten stand.
»Tut mir leid, ich wollte nicht fies sein«, entschuldigte er sich sofort.
Jane winkte ab und ließ ihn wissen, dass er sich in der Küche was zum Trinken holen konnte. Sie wollte sich nur noch schnell was anziehen und schon verschwand sie im Schlafzimmer.
Wenig später kam sie zurück, in Jeans und weißer Bluse und setzte sich zu ihm. Natürlich hatte er sich nichts zum Trinken geholt, sondern die ganze Zeit einfach nur die Decke angestarrt. Sie war total vergilbt.
»Du musst wirklich mit dem Rauchen aufhören. Wir müssen das Zimmer ja schon wieder streichen«, meinte er seufzend. Erst im Frühjahr hatte er bei der Renovierung geholfen.
Jane lachte und schüttelte den Kopf. »Danke, aber ich glaub, ich würde im Moment ohne Zigaretten sterben. Sie helfen mir, mich zu beruhigen, wenn ich mich aufregen muss – und das muss ich oft. Nicht nur wegen Alex, sondern auch im Job. Irgendwie wird mir momentan alles ein bisschen zu viel. Also, was ist schon wieder zwischen euch vorgefallen? Ich dachte, dir gefällt’s bei ihm.«
»Naja, schon. Wir kommen eigentlich prima aus, aber seit einiger Zeit ist er richtig durchgeknallt. Er sperrt sich laufend in sein Zimmer ein, oder stellt irgendwelche verrückten Sachen an. Er hat Fliegen gezüchtet, weißt du? Ganze Fliegenschwärme, aus purer Langeweile. Stubenfliegen, Schmeißfliegen, und diese richtig großen, ekligen Fleischfliegen. Er war davon besessen das Summen der verschiedenen Arten voneinander unterscheiden zu können. Mrs. Fuller und ich haben ganze zwei Wochen gebraucht, diese Plage wieder loszuwerden.
Dann hat er angefangen sich nicht mehr zu waschen. Mann, er riecht wie ein Stinktier! Jetzt hat er auch noch meine Freundin bloßgestellt. Die wird nie wieder ein Wort mit mir reden! Er ist so gehässig wie nie zuvor, ein richtiger Arsch, ich hasse ihn!«
»Und, wer ist die Glückliche?«
Tom wurde ein wenig rot vor Scham. Vielleicht hätte er das besser nicht erzählen sollen. Als er Jane damals kennenlernte, war er ein klein wenig in sie verliebt gewesen. Inzwischen war er zwar über diese Phase hinweg, aber irgendwie war es ihm unangenehm, mit ihr über solche Sachen zu reden.
»Vanessa Sutton – aber das ist schon wieder aus. Sie war ein echtes Miststück. Stell dir vor: sie ist zur gleichen Zeit noch mit zwei anderen Jungs gegangen.«
Jane lachte. »Wow, das ging aber schnell. Woher willst du das wissen?«
»Veyron hat’s herausgefunden. Er spioniert mir hinterher. Ich sagte dir ja, dass er vollkommen durchgeknallt ist. Ich halt’s einfach nicht mehr aus. Dich stört’s doch nicht, wenn ich ein paar Nächte hierbleibe, oder? Nur übers Wochenende? Vielleicht kommt er ja dann zur Besinnung.«
Jane wollte gerade etwas erwidern, als es plötzlich an der Wohnungstür klopfte. Die beiden sahen sich verdutzt an. Warum klingelte der Jemand nicht? Jane stand auf, ging zur Tür, öffnete sie jedoch nicht.
»Wer ist da? Wozu gibt es Klingeln?«
»Tut mir leid, aber draußen ist es stockfinster, ich kann den Knopf nicht finden. Sie können ruhig aufmachen, Willkins. Ich bin’s, Swift.«
Jane öffnete die Tür. Tatsächlich: Draußen stand Veyron Swift, gewaschen und rasiert und anstelle des obligatorischen Morgenmantels trug er jetzt ein blaues Hemd und eine teure Stoffhose. Er winkte Tom, der sofort aufsprang.
Was wollte der denn hier?
»Ich muss mich bei dir entschuldigen, Tom. Ich weiß, dass ich nicht immer sehr einfühlsam bin. Also habe ich beschlossen, dass wir deinen Geburtstag nachholen. Etwas spät vielleicht, aber besser als nie. Wir fahren morgen nach der Schule nach Elderwelt, als nachträgliches Geschenk sozusagen«, verkündete Veyron, als er eintrat.
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