1 ...6 7 8 10 11 12 ...19 Anja hatte allerdings nicht vor, die erste Challenge buchstabengetreu zu erfüllen. Es musste schließlich nur überzeugend genug wirken, um Nemesis zu täuschen und zufriedenzustellen.
Anstelle eines wasserfesten Stifts nahm sie daher einen Folienschreiber mit abwaschbarer schwarzer Tinte und schrieb 4:20 auf ihren linken Unterarm. Dann machte sie mit ihrem Smartphone ein Foto und schickte es an die Mail-Adresse ihres imaginären Lockvogels Laura. Anschließend hängte sie es an die Nachricht, die sie Nemesis schrieb.
Ich kann es nicht glauben, aber ich hab es tatsächlich getan! Anliegend das Beweisfoto, das du verlangt hast. Irgendwie fühle ich mich jetzt sogar ein bisschen besser. Befreit sozusagen. Ergibt das für dich irgendeinen Sinn?
Nemesis antwortete:
Natürlich ergibt das einen Sinn. Du wirst dich mit jeder Aufgabe, die du erfolgreich absolviert hast, und mit jeder Stufe, die dich deinem Ziel – dem Tod – näher bringt, besser und befreiter fühlen.
Ich habe das schon oft bei anderen erlebt, die ich in den Tod begleiten durfte. Wirf doch mal einen Blick in die »Suicidal Hall of Fame«. Den Leuten, die du dort siehst, erging es anfangs ähnlich wie dir. Dennoch haben sie es schließlich geschafft. Und schon bald wird dein Foto neben den anderen zu sehen sein.
Bravo! Die erste Aufgabe hast du geschafft. In 22 Minuten werde ich dir die nächste stellen. Mach dich bereit!
Sobald Anja Nemesis’ letzte Nachricht gelesen hatte, wischte sie sich mit Speichel und einem Papiertaschentuch die Schrift vom Unterarm. Anschließend ging sie ins Internet und suchte nach Informationen über den Namen ihres Todesengels .
Nemesis war in der griechischen Mythologie die Göttin des gerechten Zorns oder der ausgleichenden Gerechtigkeit. Heutzutage verstand man darunter allerdings eher einen ewigen Gegenspieler oder Erzrivalen. Außerdem stand der Name Nemesis für einen persönlichen Todesengel oder Todfeind, einen personifizierten Todesbringer oder eine tödliche Bedrohung.
Die Wahl des Namens passte also, denn diejenigen, die bei anderen Selbstmordspielen Vormund genannt wurden, waren hier im wahrsten Sinne des Wortes personifizierte Todesbringer.
Anja schloss den Browser und griff zum Telefon. Sie rief bei einem Kollegen in der Cybercrime-Abteilung an, mit dem sie ein paar Mal zu tun gehabt hatte und den sie ein bisschen besser kannte als seine Kollegen. Cybercrime war unter anderem für die EDV-Beweismittelsicherung und -auswertung und die Telekommunikationsüberwachung zuständig. Sie setzte ihn davon in Kenntnis, dass sie den Laptop eines vermissten Studenten vorbeibringen lassen würde, damit er auf Herz und Nieren untersucht werden konnte. Außerdem gab sie ihm die Internetadresse des Clubs der toten Gesichter und bat ihn, mehr über den oder die Betreiber der Seite herauszufinden.
Als es an der Zeit für Nemesis’ nächste Nachricht mit der zweiten Aufgabe der Suicide-Challenge war, sah sie in Lauras Postfach und öffnete die Mail, die vor wenigen Augenblicken dort eingegangen war.
Hallo, Laura,
zunächst einmal herzlichen Glückwunsch zur Bewältigung der ersten Challenge. Du kannst echt stolz auf dich sein. Doch das war erst der Anfang, denn 23 Aufgaben liegen noch vor dir. Aber keine Bange. Du hast gezeigt, dass du entschlossen genug bist, dein Ziel kompromisslos zu verfolgen, auch wenn dich, wie nicht anders zu erwarten war, im Moment noch Zweifel und Ängste plagen.
Hier also die zweite Aufgabe.
Sieh dir innerhalb der nächsten Stunde im Internet mindesten fünfmal das Video zu dem Lied »Gloomy Sunday« an. Mach dich zudem mit seiner Hintergrundgeschichte vertraut. Fasse für mich anschließend in einer kurzen Mail die Geschichte des Songs zusammen.
Anja runzelte verwirrt die Stirn, denn der Titel des Liedes sagte ihr nichts. Auf den ersten Blick gab es nicht einmal einen Bezug zum Thema Selbstmord. Außerdem war es keine schwere Aufgabe, die ein großes Opfer von ihr verlangte. Entweder hatte Nemesis gemerkt, dass sie Laura nicht gleich am Anfang überfordern durfte, und fing deshalb behutsam an. Oder die Suicide-Challenge des Clubs begann immer so harmlos, steigerte sich dann aber unter Umständen umso mehr, wenn sie dem Höhepunkt zustrebte.
Sie machte sich im Internet über »Gloomy Sunday« schlau. Dabei handelte es sich um den englischen Titel eines Liedes, das der ungarische Pianist Reszö Seress 1932 geschrieben hatte, nachdem er von seiner Verlobten verlassen worden war. Der ungarische Titel lautete Szomorú Vasárnap , was übersetzt »Trauriger Sonntag« hieß. Es ging darin um einen Mann, dessen Freundin kürzlich verstorben war, und der nun darüber nachdachte, Selbstmord zu begehen, um wieder mit ihr vereint zu sein. Berühmt wurde das Lied vor allem als sogenanntes »Lied der Selbstmörder«, da alsbald eine Reihe von Suiziden damit in Verbindung gebracht wurde. So sollte im Frühjahr 1933 in einem Budapester Café ein junger Mann die Kapelle gebeten haben, Szomorú Vasárnap zu spielen. Anschließend ging er nach Hause und erschoss sich. In einem anderen Fall schluckte eine junge Frau eine Überdosis Tabletten, während ihr Grammophon ständig Szomorú Vasárnap spielte. Als die Nachbarn schließlich genervt die Wohnungstür aufbrachen, da auf ihr Klopfen niemand reagiert hatte, fanden sie die Frau tot vor. Einige Radiosender weigerten sich daraufhin, das Lied zu spielen. Seress selbst beging im Januar 1968 Selbstmord; er sprang aus dem Fenster seiner Budapester Wohnung. Und das Mädchen, das ihn verlassen und damit erst zu dem Lied inspiriert hatte, hatte sich schon viel früher umgebracht. Neben ihrem Leichnam fand man angeblich ein Blatt Papier, auf dem »Gloomy Sunday« stand. Erst mit dem deutsch-ungarischen Film »Ein Lied von Liebe und Tod – Gloomy Sunday« aus dem Jahr 1999 wurde das Lied wiederentdeckt.
Anja sah sich anschließend Videos des Originalsongs, der deutschen Version »Das Lied vom traurigen Sonntag« aus dem Film »Ein Lied von Leben und Tod« und die englischsprachige Interpretation »Gloomy Sunday« von Sinéad O’Connor an. Das Lied war melancholisch und durchaus in der Lage, jemanden noch trauriger zu machen, der sich ohnehin in depressiver Stimmung befand. Doch Anja hatte anschließend nicht das Bedürfnis, sich umzubringen. Bis vor etwa zehn Monaten wäre das noch anders gewesen. Damals hatte sie oft den Lockruf verspürt, den der Abgrund jenseits des Todes, wie sie es nannte, auf sie ausgeübt hatte. Vermutlich musste man depressiv, ohnehin suizidgefährdet oder zumindest extrem niedergeschlagen und traurig sein, um von dem Lied dazu verführt zu werden, sich selbst das Leben nehmen zu wollen.
Da Nemesis ihr aufgetragen hatte, sich das Video mindestens fünfmal anzusehen, hatte Anja noch genügend Zeit, bevor sie ihrem Todesengel eine Mail mit der Zusammenfassung der Geschichte des Liedes schicken musste. Außerdem wollte sie ihn ein bisschen auf die Folter spannen und zappeln lassen. Nemesis sollte sich nach Möglichkeit nie allzu sicher sein, dass sie Laura vollständig unter Kontrolle hatte. Gegebenenfalls ließ sie sich ja eher Antworten auf Lauras Fragen entlocken, wenn sie sie damit bei der Stange halten musste.
Um die Wartezeit zu überbrücken, arbeitete sich Anja durch die Akten der Vermisstenfälle, die sie von ihren Kollegen bekommen hatte. Sie enthielten jedoch nichts Neues; das Wichtigste hatten die Kollegen ihr bereits bei ihren Gesprächen mitgeteilt.
Anschließend verglich sie die Vermisstenfälle miteinander und suchte nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden. Stefan Greinwald, Martina Schreiber, Erhard Bader und Markus Lehner hatten im Gegensatz zu Christian Stumpf, dem aktuellsten Fall, weder Abschiedsbriefe noch Hinweise auf den Club der toten Gesichter hinterlassen. Außerdem lebten sie, anders als der Student, allein und waren todkrank oder schon länger depressiv oder lebensmüde.
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