1 ...7 8 9 11 12 13 ...19 Der Umstand, dass zwei der Vermissten an Krebs erkrankt waren, erinnerte Anja an den Apokalypse-Killer . Der Serienmörder hatte todkranke Frauen entführt und umgebracht, um ihre Leichen anschließend als makabre Abziehbilder der apokalyptischen Reiter zu inszenieren. Doch der Apokalypse-Killer war zum Glück tot und konnte daher nicht länger sein Unwesen treiben!
Sie dachte intensiv über die verschiedenen Vermisstenfälle nach, kam aber zu keinem Ergebnis. Irgendetwas störte sie; sie konnte aber nicht sagen, um was es sich konkret handelte. Nach einer Weile fand sie es allmählich an der Zeit, ihre nächste Nachricht an Nemesis zu schicken. Es waren nur noch wenige Minuten, bis die zweite volle Stunde ihrer Challenge und damit die Zeit endete, in der sie die nächste Aufgabe absolviert haben musste. Sie schrieb eine kurze Zusammenfassung dessen, was sie über »Gloomy Sunday« erfahren hatte, bevor sie die Nachricht abschickte.
Die Antwort ihres Todesengels kam ein paar Minuten später.
Gratulation! Du hast auch die zweite Aufgabe mit Bravour bewältigt. War doch gar nicht so schwer, oder?
Nun bist du bereit für die nächste Challenge.
Deine dritte Aufgabe ist die folgende: Zeichne einen »Todesengel« auf ein Stück Papier. Mach anschließend ein Foto und maile es mir.
Anja runzelte die Stirn. Auch die dritte Challenge war leicht durchführbar und kein großes Opfer. Sie hatte erwartet, dass die Aufgaben immer härter werden würden. Andererseits war sie natürlich froh. Sie hatte nicht vor, sich zu verletzen, indem sie sich beispielsweise die Haut aufritzte, Nadeln in den Arm stach oder die Lippen zerschnitt, was bei anderen Selbstmordspielen teilweise verlangt worden war.
Allerdings hielt sie die Zeit für gekommen, dass Laura sich wieder einmal ein wenig störrisch benahm. Deshalb schrieb sie eine weitere Nachricht an Nemesis .
Ich weiß nicht, wie ein Todesengel aussieht. Kannst du mir helfen, Nemesis? Du bist doch ein Todesengel. Wie siehst du aus?
Erneut konnte sich Anja ein Lächeln nicht verkneifen, als sie die Mail abschickte, denn die würde Nemesis mit Sicherheit nicht gefallen.
Als sie fast umgehend die Antwort erhielt, glaubte sie sogar, das Wutschnauben des vermeintlichen Todesengels zu hören, während sie las, was Nemesis geschrieben hatte.
Offensichtlich hast du die Regeln noch immer nicht kapiert, sonst würdest du mir keine derartig dummen Fragen stellen.
Es funktioniert wie folgt: Ich sage dir, was du zu tun hast, und du machst es anschließend, ohne es ständig zu hinterfragen! Hast du mich jetzt endlich verstanden?
Deine dritte Aufgabe besteht darin, einen »Todesengel« zu zeichnen. Das kann doch nicht so schwer sein! Andere Teilnehmer, die ich bislang begleitet habe, stellten sich nicht so dämlich an.
Es geht nicht darum, wie ein »Todesengel« aussieht, sondern darum, wie du dir einen vorstellst. Und den zeichnest du dann.
Verstanden?
Und schick mir gefälligst keine weiteren Nachrichten, bevor du die Aufgabe erfüllt hast!
Die Zeit läuft! Ich warte!
»Ich auch«, murmelte Anja und ließ die Nachricht fürs Erste unbeantwortet.
Sie hatte noch eine Menge weiterer Vermisstenfälle, die darauf warteten, von ihr bearbeitet zu werden. Und am heutigen Tag war sie bislang zu nichts anderem gekommen, als ausschließlich die Fälle von Vermissten zu bearbeiten, deren Fotos in der Ruhmeshalle des Selbstmordclubs hingen.
Sie öffnete daher die Akte eines vierzehnjährigen Mädchens namens Leonie Wagner. Leonie war vor drei Tagen verschwunden. Allerdings war das nichts Neues. Das Kind riss regelmäßig von zu Hause aus, wurde aber ebenso regelmäßig wenige Tage später in der Innenstadt, meist in der Nähe des Hauptbahnhofs, wieder aufgegriffen. Dennoch musste sie jedes Mal erneut zur Fahndung ausgeschrieben werden. Denn auch wenn allen klar war, dass sie nicht in Gefahr schwebte, durfte sie als Minderjährige ihren Aufenthaltsort nicht selbst bestimmen. Im Gegensatz zu Erwachsenen galten Kinder und Jugendliche schon dann als vermisst, wenn ihr Aufenthaltsort unbekannt war.
Der Fall war mittlerweile abgeschlossen, denn Leonie war gestern Abend von zwei Bundespolizisten innerhalb des Bahnhofs entdeckt worden. Die Beamten kannten das Mädchen inzwischen. Sobald Anja sie darüber informierte, dass Leonie wieder einmal abgängig war, hielten sie nach ihr Ausschau. Anja hatte sie noch am gleichen Abend bei der Bundespolizeiinspektion am Hauptbahnhof abgeholt und nach Hause gebracht. Auf der Fahrt hatte sie dem Mädchen, wie sie es immer tat, ins Gewissen geredet. Sie glaubte allerdings nicht, dass sie diesmal damit erfolgreicher gewesen war als die unzähligen Male zuvor. Leonie hatte so demonstrativ gelangweilt, wie es nur vierzehnjährige Mädchen können, aus dem Fenster gestarrt und mit keiner Regung auf Anjas Worte reagiert. Für Anja war es frustrierend. Doch was sollte sie sonst tun? Das Kind zu Hause anketten? Wohl kaum. Und so war beiden bewusst gewesen, dass sie sich unter ganz ähnlichen Bedingungen erneut begegnen würden. So lange, bis Leonie nicht mehr davonlief oder endlich volljährig war und damit tun und lassen konnte, was sie wollte.
Danach war Anja gleich nach Hause gefahren und nicht mehr dazu gekommen, den Abschluss des Falls in der Akte zu dokumentieren. Das holte sie jetzt nach.
Als sie zwanzig Minuten später aufsah und Lauras E-Mail-Account checkte, sah sie, dass Nemesis ihr eine weitere Nachricht geschickt hatte.
Laura? Warum meldest du dich nicht?
Es kann doch nicht so lange dauern, einen Todesengel zu zeichnen.
Schreib mir bitte umgehend zurück!
»Darauf kannst du lange warten, Arschloch«, sagte Anja und widmete sich einer anderen Vermisstenakte.
Nach zehn weiteren Minuten traf die nächste Mail von Nemesis ein.
Laura? Was ist los mit dir?
Ich hoffe, ich hab dich mit meiner schroffen Art nicht vor den Kopf gestoßen. Aber es ist unbedingt notwendig, dass die Teilnehmer der »Suicide-Challenge« die ihnen gestellten Aufgaben erfüllen, ohne sie ständig zu hinterfragen. Anders funktioniert die Challenge nicht.
Bitte melde dich.
»Na schön«, sagte Anja und seufzte. »Dann will ich dir den Gefallen mal tun.«
Sie formulierte eine Antwort und schickte sie weg.
Tut mir leid, Nemesis, aber ich konnte nicht früher antworten. Ich habe geweint, denn ich bin traurig und verwirrt. Warum darf ich keine Fragen stellen? Ich dachte, du bist mein Ansprechpartner, den ich alles fragen kann. Ich möchte doch nur wissen, mit wem ich es zu tun habe. Schließlich weißt du ja auch, wer ich bin. Es würde mir ja schon reichen, wenn du mir schreibst, wie alt du bist, ob du männlich oder weiblich bist und welche Farbe deine Haare haben. Danach tue ich alles, was du mir sagst, ohne dämliche Fragen zu stellen. Versprochen!
Nemesis’ Reaktion erfolgte prompt.
Na schön, Laura. Dann werde ich dir eben mitteilen, was du wissen willst. Aber danach ist Schluss, und du musst tun, was ich dir geschrieben habe. Wir haben nicht mehr viel Zeit, bevor die vierte Aufgabe an der Reihe ist.
Also. Ich bin weiblich und 20 Jahre alt. Meine Haarfarbe ist ein rötliches Kastanienbraun.
Endlich zufrieden?
Dann beeil dich jetzt bitte und erledige Aufgabe Nummer 3, bevor ich es bereue, gegen die Regeln verstoßen zu haben.
Anja notierte sich die Angaben. Natürlich konnte Nemesis gelogen haben, aber dieses Risiko musste sie eingehen. Sie nahm sich ein Blatt Druckerpapier und zeichnete mit dem Folienstift die Umrisslinie eines engelsartigen Wesens mit riesigen Flügeln, Hörnern und einem Teufelsschwanz. Anschließend malte sie den Umriss schwarz aus. Sie machte ein Foto, schickte es erneut zuerst an Lauras Account und dann als Anhang einer Mail an Nemesis .
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