– Und da Herr John Proth in Whaston als Richter fungiert...
– Nun ja, so wird der junge Mann da einen Prozeß haben...
– Und sein Gegner hat sich bis jetzt noch nicht eingefunden...
– Ganz recht.
– Schön! Na, der Richter Proth wird beide bald genug miteinander ausgesöhnt haben.
– Ja... der ist ein geschickter Mann.
– Und ein braver Mann obendrein.«
Es war ja wirklich möglich, daß das für jenen Reiter der Grund seiner Anwesenheit in Whaston war. Schon mehrmals hatte er vor der Tür John Proths sein Pferd pariert, doch ohne aus dem Sattel zu steigen. Er sah nur die Tür an und warf einen Blick nach den Fenstern des Hauses hinauf, blieb aber ruhig sitzen, so als ob er erwarte, daß jemand auf der Schwelle erschiene, bis ihn sein vor Ungeduld mit den Füßen stampfendes Pferd weiter zu reiten nötigte.
Als er dann wieder einmal an derselben Stelle hielt, öffnete sich plötzlich die Haustür und es zeigte sich ein Mann auf dem Absatz der kleinen Freitreppe, die nach dem Trottoir hinunterführte.
Kaum hatte der Fremde den Erschienenen bemerkt, als er sich schon, den Hut lüftend, an diesen mit den Worten wandte: »Herr John Proth, wenn ich nicht irre?
– Der bin ich, antwortete der Richter.
– Nur eine einfache Frage, die von Ihrer Seite nichts weiter als ein Ja oder Nein verlangt.
– Und die lautet?...
– Ist wohl heute früh schon jemand bei Ihnen gewesen, der nach Mister Seth Stanfort gefragt hat?
– Daß ich nicht wüßte.
– Danke bestens.«
Der Reiter nahm hierbei nochmals den Hut ab, ließ den Zügel lockerer und trottete in kurzem Trab die Exeterstraße hinaus.
Jetzt unterlag es – so urteilte man allgemein – keinem Zweifel mehr, daß der Unbekannte mit John Proth etwas zu tun hatte. Nach der Art und Weise, wie er seine kurze Frage stellte, war er offenbar selbst jener Seth Stanfort, der zu der bestimmten Zusammenkunft zuerst eingetroffen war. Nun gab es aber auch noch ein interessantes Rätsel zu lösen: War die Stunde des Zusammentreffens jetzt schon endgültig verpaßt, und würde der unbekannte Reiter die Stadt verlassen, um nicht wieder dahin zurückzukehren?
Da wir uns in Amerika, d. h. bei dem allerweillustigsten Volke befinden, das es hienieden gibt, wird man ohne Schwierigkeit glauben, daß bezüglich der baldigen Wiederkehr oder des endgültigen Weggangs des Fremden zahlreiche Wetten abgeschlossen wurden, Wetten um einen halben Dollar bis hinunter auf fünf bis sechs Cents – zwischen dem Personal der Hotels und den auf dem Platze zusammengeströmten Neugierigen – höhere nicht, die Beträge würden aber von den Verlierenden prompt bezahlt, und von den Gewinnern – es waren alle höchst ehrenwerte Leute – schmunzelnd eingestrichen werden.
Der Richter John Proth hatte sich begnügt, dem Reiter, der sich der Wilcox-Vorstadt zuwendete, mit den Blicken zu folgen.
Er war ein Philosoph, der Amtsrichter John Proth, ein kluger Beamter, der, so könnte man sagen, schon volle fünfzig Jahre Klugheit und Philosophie in sich aufgestapelt hatte, obgleich er selbst erst ein halbes Jahrhundert alt war, d. h. also, daß er schon ein Weiser und ein Philosoph in der Stunde war, wo er das Licht der Welt erblickte. Hierzu nehme man, daß sein Leben als Hagestolz – ein weitrer unbestreitbarer Beweis von Klugheit – nie von Sorgen getrübt worden war, was doch, das wird jedermann zugeben, die praktische Verwertung der Philosophie wesentlich erleichtert. In Whaston geboren, hatte er, selbst in den Jugendjahren, seine Vaterstadt kaum je oder überhaupt niemals verlassen, und hier wurde er von allen, die zu seinem Gerichtssprengel gehörten und die seine vortrefflichen Eigenschaften kannten, ebenso geliebt wie aufrichtig verehrt.
Von geradsinnigem Charakter, erwies er sich stets nachgiebig gegen die Schwächen, zuweilen sogar gegen die Fehler andrer Leute, und faßte seine Aufgabe nur als die Verpflichtung auf, die ihm zur Entscheidung vorliegenden streitigen Angelegenheiten auszugleichen, die Parteien, die vor seinem Tribunal erschienen, versöhnt heimzuschicken, alle Ecken und Kanten abzurunden, jedes Räderwerk gleichsam zu ölen und die in jeder, selbst der vollkommensten gesellschaftlichen Ordnung unausbleiblichen Stöße nach Möglichkeit zu mildern.
John Proth erfreute sich eines gewissen Wohlstands. Wenn er die Funktionen eines Richters erfüllte, so geschah das eigentlich nur aus Liebhaberei, und es kam ihm niemals der Gedanke, eine höhere Stellung zu erstreben. Er liebte die Ruhe, für sich und für andere, und betrachtete die Menschen alle als nahe Nachbarn, mit denen man alle Ursache hat, immer auf gutem Fuße zu stehen. Früh auf und zeitig zu Bett war seit langem seine Gewohnheit. Wenn er auch einige Lieblingsautoren der Alten und der Neuen Welt las, so begnügte er sich doch meist mit einer ehrbaren, wackeren Zeitung der Stadt, mit den »Whaston News«, worin die Anzeigen mehr Platz einnahmen als die Politik. Jeden Tag machte er einen ein- bis zweistündigen Spaziergang, bei dem die Hüte durch das viele Grüßen abgenützt wurden, was ihn dann zwang, den seinigen alle drei Monate durch einen neuen zu ersetzen. Außer der Zeit dieser Spaziergänge und der, die seine Berufstätigkeit in Anspruch nahm, blieb er in seiner friedlichen und hübsch ausgestatteten Wohnung und pflegte in seinem Garten die Blumen, die ihm dafür dadurch dankten, daß sie ihn mit ihren frischen Farben und ihrem lieblichen Dufte erfreuten.
Nachdem wir diesen Charakter mit einigen Strichen gezeichnet und das Bild John Proths in einen passenden Rahmen gebracht haben, wird man leicht begreifen, daß sich der genannte Richter durch die an ihn gerichtete Frage des Fremden nicht sonderlich aus der Ruhe bringen ließ. Hätte jener, statt sich an den Hausherrn zu wenden, dessen alte Dienerin Kate gefragt, so hätte diese wahrscheinlich noch manches andre zu erfahren gewünscht. Sie würde ihn nicht losgelassen und gefragt haben, was man antworten sollte, wenn sich jemand nach seiner Person erkundigte, und jedenfalls hätte es der würdigen Kate nicht mißfallen zu hören, ob der Fremde, sei es im Laufe des Vor- oder Nachmittags, wieder zum Hause Mr. John Proths zurückkehren werde oder nicht.
John Proth selbst würde sich eine solche Neugier, eine solche Indiskretion niemals verziehen haben, bei seiner Dienerin, die ja dem schwächeren Geschlechte angehörte, mußte er sie schon entschuldigen. Nein, Mister John Proth hatte nicht einmal bemerkt, daß das Eintreffen, die Anwesenheit und endlich das Verschwinden des Fremdlings den Maulaffen auf dem Konstitutionsplatze aufgefallen war, und nach Schließung seiner Haustür zog er sich ruhig zurück, um im Garten seinen Blumen, den Rosen, Iris, Geranien und Reseden zu trinken zu geben.
Die Neugierigen taten nicht desgleichen, sondern blieben noch beobachtend stehen.
Der Reiter war inzwischen ans Ende der Exeterstraße gelangt, die sich als Hauptader durch den Westen der Stadt hinzieht. Als er die Wilcox-Vorstadt erreichte, die die genannte Straße mit dem Zentrum von Whaston verbindet, hielt er sein Pferd an und sah sich, ohne den Sattel zu verlassen, nach allen Seiten um. Von dieser Stelle aus lag die Umgebung eine reichliche Meile weit vor ihm offen, und er konnte bis auf drei Meilen die vielfach gewundne abfallende Straße bis zu dem Flecken Steel übersehen, dessen Glockentürme sich jenseits des Potomac vom Horizont abhoben. Seine Blicke überflogen diese Straße aber vergeblich. Offenbar entdeckte er nicht, was er suchte. Das veranlaßte ihn zu lebhaften, ungeduldigen Bewegungen, die sich auf sein Pferd fortpflanzten, das er stramm im Zügel halten mußte.
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