Schwierigkeiten innerhalb der Ehe der Eltern haben ungeahnte und meist bleibende Auswirkungen auf die Psyche des Kleinkindes. Es ist erstaunlich, wie oft sich bewahrheitet, dass die ungelösten Probleme der Eltern untereinander im Kind wieder auftauchen. Heute glauben wohl nur noch die wenigsten, dass die kleinen Kinder „nichts mitkriegen“ von ihrem Umfeld und der gestörten Atmosphäre, dass sie nicht spüren, welche Wutenergien sie umgeben, manchmal unsichtbar, weil die Eltern ihre Fehden nicht vor dem Kind austragen, aber dennoch ebenso wirksam. Sie können sogar noch gefährlicher sein als offene Auseinandersetzungen, nach denen die Luft wieder rein ist. Hinzu kommt, dass durch die „participation mystique“, einer gefühlsmäßig erlebten Identität, das Kind mit all diesen Emotionen und Gedanken in Form von Energiemustern verbunden wird und ihnen ausgeliefert ist.
„ Ein Kind ist so sehr ein Teil der psychologischen Atmosphäre der Eltern, dass geheime und ungelöste Schwierigkeiten seine Gesundheit beträchtlich beeinflussen können. Die ‚participation mystique’, das heißt die primitive unbewusste Identität, lässt das Kind die Konflikte der Eltern fühlen und daran leiden, als ob sie seine eigenen wären. Es ist sozusagen nie der offene Konflikt oder die sichtbare‚Schwierigkeit, welche die vergiftende Wirkung hat, sondern es sind die geheim gehaltenen oder unbewusst gelassenen Schwierigkeiten der Eltern…Dinge, die in der Luft liegen und die das Kind unbewusst fühlt, die niederdrückende Atmosphäre von Befürchtungen und Befangenheit dringen mit giftigen Dämpfen langsam in die Seele des Kindes ein.“ (C.G. Jung: Über die Entwicklung der Persönlichkeit)
Unterdrückte Emotionen und lieblose Verhaltensweisen der Eltern untereinander werden sich meistens auch im Umgang mit dem Kind und besonders in ihm selbst fortsetzen, weil es seinen Zorn und andere Emotionen nicht zeigen darf oder nicht zeigen kann. Wenn Mutter und Vater selbst keinen Zugang zu ihren Gefühlen haben, wissen sie oft nicht, was ein Kind fühlt, denn durch ihre eigenen leidvollen Gefühle in der Kindheit, die sie nicht zulassen durften, sind sie auch später noch von ihrer Gefühlswelt abgeschnitten. Für ein hochsensibles Kind ist die frühkindliche Situation so verfahren und deformierend, dass die gravierenden Folgen lebenslänglich spürbar sein können.
Es gibt so viele dysfunktionale Familien, dass man lange suchen muss, um ein wirklich intaktes Elternhaus zu finden. Eine gestörte Familie zeigt sich unter anderem im Missbrauch von Alkohol und anderen Drogen, in Zwängen (essen, putzen etc.), ständigem Streiten, Gesprächsverweigerung der Eltern untereinander und mit ihren Kindern sowie dogmatischen Festlegungen (Geld, Religion, Erziehung etc.). Auch wenn die Grenzen des anderen nicht respektiert, die Intimsphäre missachtet, Probleme nicht angesprochen und Gefühle nicht geäußert werden (dürfen), kann man eine Familie als dysfunktional bezeichnen. Wenn die Familienmitglieder ihre Erfahrungen, Bedürfnisse und Gefühle nicht ausdrücken, lernen sie nicht, ihrer eigenen Gefühlswelt zu trauen und schon gar nicht, ein Gespür für die wahren Gefühle eines anderen Menschen zu entwickeln.
Allerdings: „Auf der ganzen Welt scheint man davon überzeugt zu sein, dass die richtige Erziehung darin bestehen muss, konsequent Scham, Zweifel, Schuld- und Furchtgefühle im Kinde zu erwecken .“ (Erik H. Erikson: Identität und Lebenszyklus)
Ob wir als Erwachsene uns nun selbst lieben und schätzen, hängt davon ab, ob unser wahres Wesen früher versteckt werden musste und wir mehr und mehr eine „Als ob“-Persönlichkeit entwickelten, um den Eltern (wenigstens ansatzweise) zu gefallen. In einer Kindheit mit einem emotional kühlen und reservierten Klima ohne liebevolle Anerkennung werden die fehlenden Gefühle oftmals durch Geschenke in Hülle und Fülle ersetzt: Materielle Zuwendungen statt liebevoller Zuneigung. Das alles hat zur Folge, dass wir anderen Menschen nicht spontan und mit offenem Herzen begegnen können, was wiederum zu Gefühlen von Verlassenheit, Leere und Entfremdung in uns selbst führt.
Eltern entdecken in ihren Kindern unweigerlich ihre eigene Kindheit und die oft schwierige Beziehung zu ihren Eltern wieder. Angesichts bestimmter Handlungen, Worte oder Einstellungen ihrer Kinder tauchen sie in die eigene Vergangenheit ein und erinnern sich an die Reaktionen ihrer Eltern. Gefühle von einst werden wach, manchmal nur für den Bruchteil einer Sekunde und deshalb meist unbewusst. Die Schläge, die sie selbst bekamen, verabreichen sie nun ihren Kindern. Dieser Ausbruch, mit dem sie sich abreagieren, verhindert dann, eine einstmals erlebte Demütigung oder Verletzung nochmals zu spüren. Sie lernten von ihren Eltern, dass Gewalt der angemessene Weg sei, Konflikte zu lösen. Um sich selbst zu schützen werden viele Kinder zwar bald vergessen, wie häufig und warum sie geschlagen wurden. Aber später werden sie dasselbe mit Schwächeren tun.
In meinem Umfeld gibt es einen Vater, der früher von seinem eigenen Vater verprügelt wurde und nun selbst sein kleines Kind schlägt. Die Mutter drohte ihm mit dem Rechtsanwalt, wenn er auch nur noch ein Mal dem Kind gegenüber gewalttätig würde. Er begründete seine Maßnahmen damit, dass er früher auch geschlagen worden sei und es ihm nicht geschadet habe. Seine Frau entgegnete ihm: Das glaubst aber nur Du! Sie hat vollkommen recht, denn er ist ein zutiefst gestörter Mensch, der keine Hilfe sucht, weil er seinen eigenen Schwächen und schmerzhaften Erfahrungen gegenüber blind ist.
Über einer Kindheit liegt fast immer ein elterlicher Schatten, aber wir können nicht alle Probleme und Krisen, die uns in unserem Leben begegnen, auf ein Fehlverhalten unserer Eltern zurückführen. In der „Schule des Lebens“ müssen uns eben Schwierigkeiten begegnen, an denen wir wachsen und reifen sollen, und so sind komplizierte Beziehungen, Krankheiten, Probleme am Arbeitsplatz und anderes mehr eine Aufgabe, die uns herausfordert und eine Lösung abverlangt.
Jedes Kind hat seine individuelle Wesensstruktur und jeweils unterschiedliche Bedürfnisse. Ein sehr sensibles Kind - vor allem ein hochsensibles Kind - braucht vielleicht dringend eine Kuschelmutter mit ganz viel Nähe. Ein Kind mit einer eher unabhängigen Natur fühlt sich eingeengt, wenn die Mutter es zu sehr bemuttert etc. Später hat es als Erwachsener Angst vor Trennung oder vor zu viel Nähe. Wenn wir oft kritisiert wurden, weil die Eltern es nicht besser wussten, ist unser Selbstwertgefühl geschwächt. Manche Eltern sind übervorsichtig und kontrollieren ängstlich die Wachstumsschritte ihrer Kinder, die sich somit nicht frei entfalten können und später selbst ängstlich bleiben. Man kann nun diesen Eltern keinen Mangel an Liebe vorwerfen, aber dennoch tun sie ihren Kindern nichts Gutes.
Eine missglückte Eltern-Kind-Beziehung hat unendlich viele Gesichter. Man ist zwar nicht traumatisiert und hegt auch keine Hassgefühle gegen seine Eltern, und doch erzeugen manche Erinnerungen Wut in einem, und man kann sich immer wieder über bestimmte Verhaltensweisen und Reaktionen seiner Eltern schrecklich aufregen. Wenn ich daran denke, dass ich mich nicht entsinnen kann, von meiner Mutter jemals in den Arm genommen worden zu sein, flammt noch heute ein kurzer „heiliger“ Zorn auf, ich fühle mich dann immer noch um die Mutterliebe betrogen. Ich kenne kaum einen, der sich nur positiv an seine Kindheit erinnert. So finden Sie also in den folgenden Kapiteln nicht nur die Dramen einer missglückten Kindheit, sondern auch die leiseren Verletzungen und deren Auswirkungen.
Alles beginnt schon vor der Geburt
In der Erforschung der neun Monate im Mutterleib ist die Wissenschaft zu erstaunlichen Ergebnissen gekommen, auch was die psychische Entwicklung des ungeborenen Kindes angeht und wie bedeutsam die Rolle der Eltern, vor allem natürlich der Mutter, dabei ist. Die vorgeburtlichen Erlebnisse, das Klima der Ehe haben einen großen Einfluss auf unsere spätere Entwicklung, auf unser physisches und psychisches Wohlergehen. Wenn ein Kind freudig erwartet und nach der Geburt von der Mutter nicht getrennt wird, sondern Körper- und Augenkontakt (Bonding) stattfindet, kann sich zwischen Mutter und Kind ein nachhaltiges Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln.
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