In dieser tragischen Geometrie ist zwischen den übriggebliebenen ko-isolierten Räumen eine so hohes Maß an Binnenspannung oder Tensigrität erreicht, das ihr gemeinsames Existenzrisiko durch eine Kofragilitätsformel ausgedrückt werden kann. In diesen Schäumen gibt es keine Mittelpunktzelle. In den Raumtheorien der Physik und für Prozesse von galaktischem, ja kosmischem Ausmaß hat das Vielkammern-System und die Schaum-Metapher Karriere gemacht.
Das 21. Jhdt kündigt sich als das century of the foam, als Jahrhundert des Schaums an. Das Thema kommt in immer mehr Wissenschaften zum tragen, aber keine billigt der morphologischen Potenz des Schaums eine größere Rolle zu als die Zell-Biologie. Für sie ist die Entstehung des Lebens aktuell eine „spontane Schaumbildung“. Nach ihr bildeten sich in der Frühzeit der noch unbelebten Erde blasenförmige Hohlräume und sorgten für eine Trennung von Innen und Außen. Sonnenenergie, die durch die Tröpfchen floß führte zu den Gebilden, die lebendige Zellen wurden.
Sie bilden nach der Sprechweise der systemischen Biologie „halboffene Systeme“, die selbst- und umweltsensitive Reaktionsräume prozessieren. Das Geheimnis des Lebens ist mit dem Raum-, dem Sphärengeheimnis eng verbunden. Die Geschichte des Organischen beginnt als Verdichtung und Verkapselung: Unter kugelförmigen Membranen sammelt sich das Mehr, das Leben heißen wird. Der Raum ist unterwegs zum Selbst, das gegen Äußeres Position einnehmen kann. Eigensinn an unerwarteter Stelle.
Sollte schon beim primitivsten Leben der geheimnisvolle Weg nach innen führen?
Diese Seite des Schaumes beginnt für Sloterdijk mit dem Eintritt in anthropologische und kulturtheoretische Kontexte. Damit ist im Wesentlichen der Zeitabschnitt gemeint, in dem sich das alteuropäische Weltbild der einen Kugel, des einen Gottes, einem von ihm gewollten weltlichen Herrscher mit dem einen für alle und jeden „zugewiesenen“ unverrückbaren Platz abnutzt und aus vielerlei Entwicklungen in ein neues Zeitalter übergeht das man nun „die Moderne“ nennen wird und an dessen Ufern wir heute nach über 500 Jahren stehen. Bald schon spricht man nicht mehr vom Kosmos, vom König-Reich und einer gottgewollten Ordnung, sondern vom Staat, den Bürgern, den „Gesellschaften“.
Die Versammlung der zahllosen (eigen-) (endo)kosmischen „Seifenblasen“ (s. die Einstiegsgeschichte in Band I) ist also nicht mehr als der Monokosmos der Metaphysik zu denken, in dem die Fülle des Seienden unter einem allgemeinsamen Logos zusammengerufen wurden.
An die Stelle der philosophischen Über-Seifenblase, der All-Monade der Einen-Welt, dem zentrischen Delirium, tritt eine polykosmische Agglomeration, eine Versammlung von Versammlern als semi-opaker Schaum aus weltbildenden Raumkonstruktionen.
Also Systeme oder Aggregate von sphärischen Nachbarschaften, in denen jede einzelne „Zelle“ einen selbstergänzenden Kontext bildet, einen intimen, von dyadischen und pluripolaren Resonanzen gespannten Sinn-Raum oder einen „Haushalt“, der in seiner jeweiligen eigenen, nur von ihm und in ihm selbst erlebbaren Animationen schwingt.
Wo sich Orte dieses Typs formen, ist das Aufeinander-hin-Existieren der nahe Vereinigten jeweils als das eigentliche Agens (gestaltende) der Raumbildung wirksam; die Klimatisierung des koexistentiellen Innenraums erfolgt durch die reziproke (wechselseitige) Extraversion (aufeinander hin) der Symbioten (Beteiligten), die wie ein Herd vor dem Herd (es wird zweimal gekocht: in der gemeinsamen Stimmung und auf dem Feuer) das gemeinsame Interieur temperieren.
Im Schaum gilt das Prinzip der Ko-Isolation, nach dem ein und dieselbe Trennwand jeweils zwei oder mehr Sphären als Grenze dient und im menschlichen Feld ebenso eine reziproke Isolation, Trennungen und Immunisierungen bewirkt. Gerade hier gehört es zu den Besonderheiten, dass die Vielfach-Ko-Isolation der Blasenhaushalte in ihren multiplen Nachbarschaften ebenso gut als Abschließung wie als Weltoffenheit beschrieben werden kann: benachbart und unerreichbar, verbunden und entrückt.
„Gesellschaften“ sind nur als unruhige und asymmetrische Assoziationen aus Räume-Vielheiten und Prozess-Vielheiten verstehbar, deren Zellen weder wirklich vereint noch wirklich getrennt sein können.
Wie im intra-systemischen einzel-Gehirn die Assoziationen sekündlich-minütlich, stündlich, täglich ihre Purzelbäume schlagen, so im Größeren und Großen -Familien, Gruppen, Gesellschaften die in ihrem schaumigen Verbund zum Aufgehen und Platzen der lokalen und globalen Assoziationsblasen führt.
Nur solange „Gesellschaften“ sich als genetisch oder theologisch substanzielle Nationalvölker hypnotisieren, betrachten sie sich als Monosphäre: leben sie in verzauberten Räumen mit imaginärer Immunität und mit magischer Erwählungs-gemeinsamkeit. Der Anfang von Wissen liegt dann in der Entscheidung, diesen Zauberkreis zu verlassen. Denn wer über „Gesellschaft“ reden will, muss diesen Zauberkreis, diese Wir-Benommenheit, verlassen um zu „sehen“ das Völker flüssiger, hybrider, undichter, promiskuitiver verfasst sind, als ihr homogener Name suggeriert.
Sloterdijk versteht unter Gesellschaften: Aggregate aus Mikrosphären (Paare, Haushalte, Betriebe, Verbände) die wie einzelne Blasen in einem Schaumberg aneinander grenzen und sich über- und untereinander schichten, ohne füreinander wirklich erreichbar noch voneinander effektiv trennbar zu sein. Sie haben keine Türen, vielleicht nur Blindfenster die auf einer Außenszene gemalt sind. Die Blasen im Schaum sind selbstbezüglich verfasste Mikrokontinente. Scheinbare Gemeinsamkeiten sind gemeinsame Nachahmungswellen und analoge Medienausstattungen. Zwischen ihnen herrscht -hinter „Masken“- Isolation, denn
-„wahre“- Kommunikation würde Kollision bedeuten.
Ihre Abstimmung geschieht nicht im direkten Austausch zwischen den Zellen, sondern durch die mimetische Infiltration von ähnlichen Mustern, Erregungen, infektiösen Waren und Symbolen in jede einzelne Zelle.
Die Zelle besteht aber nicht aus einem abstrakten Individuum, sondern in einer dyadischen –in jedem stecken zwei (s. Band I) – oder multipolaren Struktur. Ihre Monaden (Einzeller) sind Dyaden (mindestens zwei) oder komplexere Seelen-räumliche, gemeindliche und mannschaftliche Gebilde. Die Schaumzellen- “gesellschaft“ ist ein trübes Medium, das eine gewisse Leitfähigkeit für Informationen und Durchlässigkeit für Stoffe besitzt. Ausgießungen unmittelbarer Wahrheiten werden von ihm nicht weitergeleitet.
Umfassende Übersichten stehen nicht zur Verfügung. Nachrichten sind selektiv übertragbar, Ausgänge ins Ganze gibt es nicht. Super-Visionen auf die Eine Welt unmöglich – und recht verstanden auch nicht wünschbar. Jede Lage im Schaum schafft eine Verschränkung von Umsicht und Blindheit. Jedes In-der-Welt-sein eröffnet eine Lichtung im Undurchdringlichen.
Die Wendung zur pluralistischen Ontologie wird vorbedacht von der modernen Biologie und Metabiologie.
„Jedes Lebewesen besitzt eine Spezialbühne, die genauso real ist wie die Spezialbühne des Menschen“…(Jakob von Uexküll)…eine polykosmische Agglomeration, eine Versammlung von Versammlern als semi-opaker Schaum aus weltbildenden Raumkonstruktionen.
„Ein jedes Tierchen hat sein Pläsierchen“ hieß eine 1888 erschienene Gedichtsammlung von Edwin Bormann.
Die Schäume in der Zeit des Wissens
Die zarten Dinge werden spät Objekt. Das ist es, was sie mit den zahlreichen Selbstverständlichkeiten gemeinsam haben, die erst zur Auffälligkeit reifen, wenn sie verloren sind, und verloren sind sie in der Regel von dem Augenblick an, in dem sie in Vergleiche gezogen werden durch die sie ihre Gegebenheiten einbüßen:
die Luft die wir gedankenlos atmen, die von Stimmungen gesättigten Situationen, in denen wir unbewusst existieren, die offenkundigen Atmosphären in denen wir leben, weben und sind sie alle stellen Spätankömmlinge im thematischen Raum dar, weil sie eine stumme Hintergrundausstattung im thematischen Raum bilden und bildeten.
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