Onkel setzte eine resignierte Miene auf. ›Sie hat schon wieder einen neuen Schmerz‹, sagte er bitter. ›In einem solchen Augenblick!‹
Mein Vater und meine Mutter wechselten einen verständnisvollen Blick.
›Ich sage euch –‹, hob Onkel wieder an, brachte aber nicht heraus, was er uns sagen wollte.
Ohnmächtige Wut schüttelte ihn. ›Wenn ich bloß wüßte, wer mir das angetan hat‹, stieß er endlich hervor. ›Diese – diese Schlange von einer Haushälterin – ja, eine Schlange nenne ich sie – sie hat einen, den sie an meine Stelle setzen will. Und sie und Petterton haben die Geschichte angezettelt –.‹
Er schlug auf den Tisch, aber es war ihm nicht ganz ernst damit.
Vater schenkte ihm etwas Bier ein.
›Uff!‹ sagte Onkel und leerte das Glas.
›Na, es läßt sich eben nicht ändern‹, fuhr er, sich ermannend, fort. ›Irgendwie werd' ich schon durchkommen. Hier in den Zwei-Pfennig-Villen wird wohl Gartenarbeit zu kriegen sein, denke ich. Ich werd' mir schon einen Verdienst schaffen ... Aber stellt euch einmal vor! Ich ein Gärtner, der für Taglohn arbeitet! Die kleinen Beamten da in all den Villen werden nicht übel stolz sein, wenn Lord Brambles Gärtner ihnen das Gras abmäht. Ich seh' sie schon, wie sie mich ihren Bekannten durchs Fenster zeigen werden. Der war Obergärtner bei einem Lord, werden sie sagen. Hm hm –.‹
›Es ist ein Sturz‹, meinte Vater, als Onkel gegangen war. ›Man kann sagen, was man will, es ist ein Sturz ...‹
Mutter war mit der Frage der Einquartierung beschäftigt. ›Sie wird auf dem Sofa im Wohnzimmer schlafen müssen, und ihm werden wir einen Strohsack auf dem Fußboden herrichten. Ich glaub' ja nicht, daß sie sehr zufrieden sein wird. Sie werden zwar ihr eigenes Bettzeug mitbringen, aber Adelaide ist nicht danach angetan, sich auf einem Sofa wohlzufühlen.‹
Die arme Frau fühlte sich überhaupt nicht wohl. Obgleich Onkel und auch mein Vater und meine Mutter ihr Vorstellungen machten, daß sie jetzt nicht krank sein dürfe und daß ihr Betragen unverantwortlich sei, beharrte sie bei der Behauptung, ihre Schmerzen seien so schlimm, daß ein Arzt gerufen werden müsse. Dieser befahl eine sofortige Überführung in ein Hospital zum Zwecke einer dringenden Operation.«
»In jenen Tagen«, fuhr Sarnac fort, »herrschte völlige Unwissenheit in Bezug auf den menschlichen Körper. Die alten Griechen und die Araber hatten während der kurzen Phasen ihrer geistigen Regsamkeit immerhin einiges auf dem Gebiete der Anatomie geleistet; die anderen Völker aber hatten vorwiegend nur theoretische Studien in der Physiologie getrieben, und das auch erst während der letzten drei Jahrhunderte vor der Zeit, die ich euch schildere. Die Menschen im allgemeinen wußten so gut wie nichts vom Lebensprozeß des Körpers. Wie ich euch schon gesagt habe, gebaren sie sogar ungewollte Kinder. Und da sie auf eine ganz absurde Art lebten, abnormale und schlecht zubereitete Nahrung zu sich nahmen und Infektionen aller Art unbehindert um sich greifen ließen, entartete bei vielen das Gewebe des Körpers und brachte absonderliche Auswüchse hervor. Manche Körperteile hörten auf, irgend eine nützliche Funktion auszuüben, und verwandelten sich in etwas wie eine schwammige Wucherung –«
»Der menschliche Körper glich also in gewissem Sinne den damaligen Gemeinwesen«, meinte Beryll.
»Sehr richtig. Der menschliche Körper hatte Gewächse und Krebsgeschwüre aufzuweisen, und Gottes schöner Erdboden so sinnlose Gebilde wie Cherry Gardens. Oh, alle jene Krankheiten! – Die bloße Erinnerung daran ist schrecklich.«
»Aber war man angesichts der fürchterlichen Gefahren, die jedermann bedrohten, nicht mit aller Kraft daran, physiologische Forschungen zu fördern?« fragte Salaha.
»Wußte man nicht,« fügte Heliane hinzu, »daß alle die Entartungen, von denen du sprichst, vermieden werden können und heilbar sind?«
»Durchaus nicht«, erwiderte Sarnac. »Man kann ja nicht gerade behaupten, daß die damaligen Menschen ihre scheußlichen Gewächse und Krebsgeschwüre gerne ertragen hätten, aber sie waren in ihrer Gesamtheit zu wenig lebenskräftig, um ernstlich gegen ihr Elend anzukämpfen. Und schließlich hoffte jeder, er würde für seine Person der Gefahr entgehen – bis er ihr erlag. Es herrschte eine allgemeine Apathie. Und die Priester, Journalisten und so weiter, die Schöpfer der öffentlichen Meinung mit einem Wort, waren eifersüchtig auf die Männer der Wissenschaft, sie redeten dem Volke ein, daß die wissenschaftliche Forschung im Grunde zwecklos sei, sie taten, was sie konnten, um alle Neu-Entdeckungen in Mißkredit zu setzen, die Diener der Wissenschaft lächerlich zu machen und das Volk gegen sie aufzuhetzen.«
»Darüber muß ich mich nun am allermeisten wundern«, sagte Heliane.
»Ihre Denkungsart war eben eine ganz andere; sie wurden nicht wie wir zu einer umfassenden Betrachtungsweise herangebildet. Ihr Denken war zerfahren und zerstückt. Die Gebreste ihres Körpers waren nichts im Vergleich zu den krankhaften Auswüchsen ihres Geistes.«
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