»Alle Kinder«, fuhr Sarnac fort, »beginnen ihre Laufbahn mit einem unbedingten Vertrauen in die Dauerhaftigkeit der Dinge, die sie umgeben. Das Erwachen aus dem Wahn der Sicherheit setzt klare Erkenntnis voraus. Wir können uns die Gefahren, die uns bedrohen, nur vorstellen, wenn wir klar denken; und sobald wir klar denken, haben wir auch die Kraft, der Gefahr zu begegnen. Die Menschen der alten Zeit dachten verworren und irrig wie Kinder, sie waren blind gegen den fortschreitenden Verfall der schwankenden Zivilisation, in der sie lebten. Trotz der allgemeinen Unsicherheit schien ihnen das Dasein im Grunde ganz sicher. Ein Unglücksfall setzte jedermann in Erstaunen, obwohl jedermann dauernd auf Unheil aller Art hätte gefaßt sein müssen.
Der erste Schlag traf meine Familie ganz unvorbereitet, etwa sechs Wochen, nachdem ich aus Chessing Hanger zurückgekehrt war, um mein letztes Schulsemester zu absolvieren, ehe ich Gärtner wurde. Es war am späten Nachmittag. Ich war aus der Schule heimgekommen und saß lesend in unserem unterirdischen Zimmer. Die Mutter räumte eben den Teetisch ab und zankte mit Fanny, die ausgehen wollte. Die Lampe war angezündet, und ich sowie Vater, der, wie er sagte, die Zeitung überflog, waren so nah als möglich an sie herangerückt, denn das Licht, das sie gab, war völlig ungenügend. Da hörten wir oben die Türglocke des Ladens kreischen.
›Zum Kuckuck,‹ sagte Vater, ›wer kommt denn da noch so spät am Abend?‹
Er schob seine Brille in die Höhe. Er hatte sich aufs Geratewohl bei einem Trödler eine Brille gekauft und setzte sie auf, wenn er las. Sie machte seine ohnehin schon großen, milden Augen noch größer. Er schaute uns fragend an. Wer konnte um diese Zeit noch etwas wollen? Gleich darauf hörten wir Onkel John Julip die Treppe herunterrufen:
›Mortimer‹, sagte er, und seine Stimme kam mir dabei ganz ungewöhnlich vor. Niemals hatte ich ihn meinen Vater anders als Smith nennen hören.
›Bist du es, John?‹ sagte Vater, indem er sich erhob.
›Ja, ich bin es. Ich möchte mit dir sprechen.‹
›Komm doch herunter und trink eine Tasse Tee mit uns‹, rief Vater, unten an der Treppe stehend.
›Nein, ich muß dir etwas erzählen, es ist besser, du kommst herauf. Etwas Ernstes.‹
Ich überlegte, ob ich vielleicht irgendetwas angestellt hätte und Onkel deshalb herübergekommen sei. Mein Gewissen war aber ziemlich rein.
›Was kann denn nur los sein?‹ fragte Vater.
›So geh doch und laß es dir erzählen‹, meinte Mutter.
Vater ging.
Ich hörte meinen Onkel etwas sagen wie: ›Wir sind erledigt. Man hat uns verraten, und wir sind erledigt.‹ Dann schloß sich die Tür zum Laden. Wir horchten nach oben. Es klang, als ob Onkel Julip im Sprechen auf und ab gehe. Meine Schwester Fanny nahm Hut und Jacke und huschte unauffällig die Stiege hinauf und zum Hause hinaus. Nach einer Weile erschien Prue; sie sagte, sie habe der Lehrerin aufräumen geholfen, ich aber wußte, daß sie log. Dann verging eine lange Zeit. Schließlich kam Vater allein die Treppe herunter.
Er ging zum Kamin, als ob er im Traum wandle, blieb auf dem Kaminteppich stehen und starrte mit unheilvollem Ausdruck vor sich hin, offenbar wartend, daß Mutter ihn frage, was denn geschehen sei. ›Warum ist John nicht heruntergekommen, um eine Tasse Tee zu trinken und einen Bissen zu essen? Wo ist er hingegangen, Morty?‹
›Er ist fortgegangen, um einen Möbelwagen zu bestellen‹, erwiderte Vater.
›Einen Möbelwagen? Ja, wozu denn?‹ fragte Mutter.
›Er muß ausziehen – wenn du es wissen willst.‹
›Er muß ausziehen?‹
›Wir werden sie für ein paar Tage hier bei uns unterbringen müssen‹, fuhr Vater fort.
›Wen werden wir hier unterbringen müssen?‹
›Ihn und Adelaide. Sie kommen nach Cherry Gardens.‹
›Du willst doch nicht etwa sagen, daß John seine Stellung verloren hat?‹
›Doch! Seine Lordschaft ist ihm mit einem Male feindlich gesinnt. Es ist Unheil angestiftet worden. Irgendwer hat spioniert, und seinen Feinden ist es gelungen, ihn um seine Stellung zu bringen. Er ist hinausgeworfen worden. Er kann gehen – hat man ihm gesagt.‹
›Ja, aber man wird ihm doch gekündigt haben!‹
›Nein, nicht im geringsten. Seine Lordschaft ist ganz rot vor Zorn in den Garten gekommen. »Hinaus mit dir!« So hat er gesprochen. Mit diesen Worten. »Und danke deinem Schöpfer, daß ich dir nicht die Polizei auf den Hals jage, dir und deinem scheinheiligen Schwager.« Ja, das hat Seine Lordschaft gesagt.‹
›Ja, aber was meint er denn damit, Morty?‹
›Was er damit meint? Er meint, daß gewisse Personen, die er nicht nennt, John verdächtigen, Lügen über ihn erzählt und ihn beobachtet haben, ihn und mich. Sie haben mich auch mit hineingezogen, Martha, und unseren Harry auch. Sie haben eine Geschichte über uns zusammengedichtet ... Ich hab' ja immer gesagt, daß wir es nicht so regelmäßig machen sollten ... Nun haben wir's! Nun ist John kein herrschaftlicher Gärtner mehr! Und nicht einmal ein Zeugnis wird man ihm geben. Er wird nie mehr eine ordentliche Stellung bekommen, er ist ruiniert. Das haben wir nun davon!‹
›Ja, wird denn behauptet, daß er etwas genommen hat? Mein Bruder John soll etwas genommen haben?‹
›Produktionsüberschuß. Den für sich zu nehmen, ist das Recht jedes Gärtners, seit die Welt besteht.‹
Ich saß mit glühenden Backen da und tat so, als ob ich nichts von diesem furchtbaren Gespräch hörte. Niemand wußte, welchen Anteil ich am Sturz meines Onkels hatte. Und bald begann sich, dem Gesang einer Lerche nach einem Gewitter vergleichbar, in meinem Herzen die Hoffnung zu regen, daß ich nun vielleicht kein Gärtner werden würde. Meine Mutter gab ihrer Bestürzung in abgerissenen Sätzen Ausdruck. Immer wieder stellte sie ungläubige Fragen, und Vater antwortete in orakelhaftem Ton. Plötzlich wandte sich Mutter in wildem Zorn an Prue und warf ihr vor, daß sie, anstatt Geschirr abzuwaschen, einem Gespräche zuhöre, das sie nichts angehe.«
»Du schilderst uns diese Szene sehr eingehend«, meinte Beryll.
»Es war das die erste große Krise meines Traumlebens«, erwiderte Sarnac. »Sie ist mir sehr lebhaft in Erinnerung. Ich kann die alte Küche, in der wir lebten, noch ganz deutlich vor mir sehen, die verblichene Decke auf dem Tisch und die Petroleumlampe mit ihrer Glaskugel. Ich glaube, bei einigem Nachdenken könnte ich alles aufzählen, was sich in jenem Raume befand.«
»Was ist ein Kaminteppich?« fragte Iris plötzlich.
»Was für ein Ding war der Kaminteppich, von dem du sprachst?«
»Ich wüßte nicht, womit ich so einen Kaminteppich vergleichen sollte. Es war eine Art derbe Decke, die man vor das Kamingitter legte; vor dem Kohlenfeuer, das im Kamin brannte, war nämlich ein kleines Gitter angebracht, damit die Asche nicht auf den Fußboden des Zimmers falle. Unseren Kaminteppich hatte mein Vater selbst hergestellt, und zwar aus alten Lappen, alten Kleidern, Flanellresten und Stückchen Sackleinen; die Stoffe wurden in schmale Streifen geschnitten und diese dann auf einem Stück Sackleinen befestigt. An Winterabenden hatte Vater am Feuer gesessen und emsig genäht.«
»Hatte dieser Kaminteppich irgend ein Muster?«
»Nein. Aber ich werde mit meiner Geschichte niemals zu Ende kommen, wenn ihr fortwährend Fragen an mich stellt. Ich erinnere mich, daß Onkel, nachdem er einen Möbelwagen bestellt hatte, wieder zu uns kam und ein Käsebrot als Abendimbiß bei uns verzehrte, bevor er nach Chessing Hanger zurückmarschierte. Er war blaß und sah verstört drein. Sein Gehaben hatte keinerlei Ähnlichkeit mehr mit dem des Sir John; er sah aus wie einer, den man gewaltsam aus irgendeinem Versteck hervorgezogen hat, ein elender und bedauernswerter Mensch, der plötzlich dem Licht ausgesetzt wird. Ich erinnere mich, daß meine Mutter ihn fragte: ›Und wie nimmt es Adelaide?‹
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