Die letzten 320 Sekunden bis zum Start liefen nach einem festen Programm ab.
Und um die größte Quelle für Fehler und Missverständnisse zu eliminieren, war menschliches Eingreifen bei diesen komplexen Vorgängen nicht mehr vorgesehen.
Auf der Startrampe wurden jetzt vollautomatisch die letzten Versorgungsleitungen und Verbindungskabel getrennt. Alle Systeme des Flugkörpers arbeiteten ab sofort autark und ohne Versorgung von außen.
Das dort beschäftigte technische Personal hatte den Gefahrenbereich rund um die Rakete längst verlassen und in Bunkern hinter dicken Betonwänden Schutz gesucht.
Und selbst die umgebende Natur schien den Atem anzuhalten.
Nur ab und zu störte ein leises Zischen aus Überdruckventilen oder ein schaltendes Relais die morgendliche Ruhe vor dem nahenden Inferno.
Exakt 125 Sekunden vor dem Start veränderte sich die Aktivitätsanzeige des Startcomputers von Orange auf Rot. In diesem Moment hatte das Programm selbstständig und genau nach Zeitplan den ultimativen Startbefehl an alle Systeme erteilt.
Juri wusste, dass seine englischsprachigen Kollegen diesen Zeitpunkt den »Point of no return« nannten, und eine bessere Bezeichnung war ihm auch noch nicht eingefallen.
Ab sofort war es für niemanden mehr möglich den Startvorgang manuell zu stoppen, und das rote Licht der Anzeigetafel degradierte alle Beteiligten im Raum für die nächsten zwei Minuten endgültig zu hilflosen Zuschauern.
Unbewusst rieb er sich die feuchten Hände an der Hose trocken. Was würde er jetzt für einen kleinen Schluck Wodka zur Beruhigung seiner Nerven geben.
Und obwohl er sich mittlerweile selbst zu den alten Hasen im Raum zählte, wusste er nur zu genau, dass es den meisten Anderen ähnlich erging.
Seine Nerven waren wie bei allen Starts, die er vorbereitet hatte, bis zum Zerreißen angespannt und er empfand jedes Umspringen der Sekundenanzeige körperlich.
Er selbst, sein Team und die gemeinsame Arbeit von Monaten waren jetzt vom fehlerfreien Funktionieren von Schaltkreisen und Software abhängig.
Und wie bei allen Countdowns schien sich jede einzelne Sekunde etwas länger zu dehnen als die vorherige.
In Baikonur verzichtete man darauf, die verbleibende Restzeit für alle vernehmlich herunter zu zählen. Diese Theatralik überließ man den Amerikanern in Houston, das lag eindeutig näher an Hollywood.
Deswegen hing jeder Anwesende mit mindestens einem Auge an der erbarmungslos langsam herunterzählenden Zentraluhr und versuchte, dabei selbst möglichst gelassen zu wirken.
Wassili hob demonstrativ den Daumen und nickte ihm zu. Laut Startuhr waren die letzten 25 Sekunden angebrochen, und den beiden war klar, dass der Computer ihre Lieblinge in fünf weiteren zünden musste.
Kurz darauf würde die erste Stufe ihrer vierstufigen Sojus-FG exakt einhundertachzehn endlose Sekunden lang einen Schub von fast 1000 Kilonewton entwickeln und in der kurzen Zeit ihrer Brenndauer über 40 Tonnen hochexplosiven Treibstoff in brachiale Energie umwandeln.
Und nichts würde sie aufhalten, bis die Fregat-Oberstufe den GIOVE-A-Satelliten, nach circa drei Stunden Flugzeit, in seine vorbestimmte Umlaufbahn in gut 23.000 Kilometer Höhe entlassen hätte. Da waren sie sich sicher.
Kurz darauf ließ die Zündung der Triebwerke auf der acht Kilometer entfernten Startrampe die Anzeigen auf ihren Monitoren verrückt spielen.
Und die Vibrationen des Bodens, die sich wenige Augenblicke später selbst in dieser Entfernung deutlich spüren ließen, verursachten auf Juris Armen eine Gänsehaut.
Für ihn waren sie jedes Mal wie ein letzter brutaler Abschiedsgruß. Und wie bei allen Starts schwankte er zwischen Stolz auf ihre geleistete Arbeit und Wehmut über den Abschied seines Babys.
Aber ebenso war dies genau der Moment, für den er so begeistert arbeitete, und die unvergleichbare Belohnung für seine monatelangen Mühen.
Ihre Ballerina hatte ihren vorbestimmten Weg aufgenommen, und sie selbst waren ihrem verdienten Feierabendwodka einen entscheidenden Schritt näher gekommen.
Und Juri war klar, dass er keine andere Wahl hatte, als heute Abend mit Alina zu reden.
Sie muste ihm helfen von dieser Adrenalinsucht loszukommen und sich auf ein hoffentlich ruhigeres Leben mit neuen Prioritäten zu freuen.
Hamburg, Deutschland, 16.01.2008 03.45 Ortszeit
»Na bravo«, schnaubte Bräuninger halblaut, seines Zeichens Hauptkommissar bei der Kripo Hamburg.
Mit einem missmutigen Blick nach oben schlug er die Tür des Golf Diesel hinter sich zu.
Dicke Regentropfen, die ihm aus dem schwarzen Nachthimmel entgegenkamen, fielen heimtückisch und völlig lautlos.
Erst bei ihrem Aufprall auf das Wagendach und auf die Blätter der umstehenden hohen Linden, die die Straße säumten, erzeugten sie ein klatschendes Geräusch.
So als wollten sie ihm Applaus spenden.
Beifall dafür, dass er sich zu solch nachtschlafenden Zeit aus dem Bett gequält hatte, um an diesem ungemütlichen und finsteren Tatort eines brutalen Verbrechens heldenhaft seine Pflicht zu tun.
»Schön wär´s«, dachte er bei sich selbst und konnte bei dem Gedanken ein etwas gelangweiltes Grinsen nicht unterdrücken. Seine fast dreißig Dienstjahre hatten ihn zwar bis zum Hauptkommissar der Hamburger Mordkommission gebracht, aber Applaus gespendet hatte ihm in dieser Zeit noch keiner.
Mit einem Anflug von Resignation stellte er fest, dass das Klatschen lauter wurde, und die Frequenz zunahm.
»So ein Scheiß, ….. « setzte er sein knurrendes Selbstgespräch fort.
»Rain in Mai ….. !«
Mit einem hilflosen Schnauben ließ den Wagenschlüssel in Tasche seiner in die Jahre gekommenen Windjacke gleiten, und klappte mit beiden Händen den Kragen hoch.
Sein geschulter Kriminalistenblick schätzte die Entfernung bis zum schützenden Hauseingang auf mindestens 80 Meter. Und 80 Meter konnten bei so einem Scheißwetter ganz schön lang werden.
Trotzig vergrub er seine Hände in den Jackentaschen und machte sich mit eingezogenem Kopf auf den Weg.
»Was haben Sie gesagt?«, kam es fragend von seiner rechten Seite.
Sven Folkerts, Kriminalassistent im ersten Dienstjahr, war an der Beifahrerseite ausgestiegen und hatte mit ein paar Laufschritten zu ihm aufgeschlossen.
Er war vor acht Wochen, frisch aus der Ausbildung, zur Kripo Hamburg gestoßen und Bräuningers Team als »Trainee on the job« zugeteilt worden.
Angesichts des stärker werdenden Regens hatte er die Kapuze seines Pullovers so weit wie möglich in die Stirn gezogen, dass die blonde Lockenpracht komplett darunter verschwand. Und sein Kinn berührte fast sein Brustbein. Mit zusammen gekniffenen Augen versuchte er mit seinem Chef Schritt zu halten.
»Max Werner, ..… eben nicht zugehört?«
In den letzten Jahren hatte Bräuninger die Gewohnheit entwickelt jeden Dienstwagen, den er benutzte, erstmal mit einer selbstgebrannten CD und vernünftiger Musik auszustatten.
Auf diesen modernen Sendern von heute wurde ihm entschieden zu viel hohles Zeug gequatscht. Das störte seine Gedankengänge und machte ihn aggressiv.
Und mit dem, was die da zwischen der nervenden Werbung als Musik verkauften, konnte er zum größten Teil auch nicht mehr viel anfangen.
Robby Williams oder Pink oder Shakira …… ist doch alles Retortenmusik von künstlich gemachten Retortensternchen.
»Von denen spricht in zehn Jahren kein Mensch mehr.
Led Zeppelin, Garry Moore oder Bruce Springsteen, das ist noch Musik!
Das kann man auch in 50 Jahren noch hören.«
Wenn diese komische Britney Spears längst als unbekanntes und verarmtes ehemaliges Popsternchen in einem drittklassigen Altersheim in Florida unter sich macht. Falls man sie nicht vorher bekifft und leblos aus irgendeiner Hotelbadewanne zieht.
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