Und er wusste genau, dass sobald er ihr von dem Angebot berichtete, die Entscheidung gefallen war.
Und dass das Kommende unausweichlich kommen würde, ohne auf seine Befindlichkeiten oder Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen.
Der kalte Südwind in seinem Gesicht riss ihn aus den Gedanken und ließ in kurz frösteln. Gierig nahm er einen letzten Zug aus der filterlosen Prima.
Mit Daumen und Mittelfinger schnippte er sie von sich und machte sich auf den Rückweg.
Ein Blick auf die Uhr am Handgelenk sagte ihm, dass es höchste Zeit war, seinen Platz im Kontrollraum wieder einzunehmen.
Mit schnellen Schritten legte er die letzten Meter zurück und öffnete die schwere Seitentür zu ihrem Allerheiligsten.
Als er den halb abgedunkelten Raum betrat, vermochte er nur mit einem akrobatischen Ausfallschritt zu verhindern über seinen am Boden liegenden Kollegen Wassili zu stolpern.
»Hey Wassili«, raunzte er den halb unter einem Kontrollpult Verschwundenen an. »Schlechter Zeitpunkt für ein Nickerchen, oder«?
»Jajaja«, kam es keuchend zurück. »Toller Witz ….. aber ein noch beschissenerer Zeitpunkt für diesen Scheiß Monitor gerade 40 Minuten vor dem Start den Geist aufzugeben«.
»Und, habt ihr schon Ersatz?«
»Klar ..., steht doch da. Hab ich gerade bei den Jungs von der Sicherheitsabteilung ausgeliehen. Erst wollten sie mich erschießen, aber ich hab ihnen gesagt, dass die Zukunft des Vaterlandes davon abhängt«.
»Sehr gut«, lobte Juri und bemühte sich ein Grinsen zu verkneifen. »Und jetzt?«
»Jetzt muss ich nur noch diesen gottverdammten Scheißstecker davon überzeugen in diese gottverdammte Scheißsteckdose zu gehen ….«
Nach zwei weiteren gekeuchten russischen Flüchen folgte ein hoffnungsvolles: »Läuft jetzt was?«
Juri warf einen Blick auf den Ersatzmonitor, auf dem eine kurze Bootsequenz flackerte. Dann erschienen Zahlenkolonnen und Grafiken, die die Zustände der Triebwerke darstellten.
»Ja, ich glaube, wir sind wieder online. Gute Arbeit«
Weiter leise vor sich hin fluchend richtete Wassili sich hinter dem Kontrollpult auf und klopfte sich demonstrativ den Staub von Hemd und Hose. Erschöpft umrundete er das Pult und ließ sich neben seinem Kollegen in seinen Sessel fallen.
»Das muss ich aber auch nicht jeden Tag haben.«
Juri verkniff sich eine Anspielung auf Wassilis etwas rundliche Figur und warf einen Blick auf die große Digitaluhr, die in der Mitte der Hauptkontrolltafel an der Stirnwand des Saals angebracht war.
»31 Punkt 30« stellte er nüchtern fest. »In einer Minute dreißig fangen sie an, den Versorgungsturm zurückzufahren.
Sind wir bereit für die Umschaltung auf Eigenstrom?«
»Ja«, kam die Bestätigung von Wassili. »Alles klar für Eigenstromversorgung.«
»Was machen die Temperaturschwankungen in Brennkammer 2?«
»Ist immer noch so wie vorher,« antwortete sein Assistent mit einem Blick auf einen Seitenmonitor.
»Aber wenn ich die Toleranz der Brennkammertemperatur und die Toleranz der Sensoren addiere, sind wir noch im grünen Bereich.«
Juri warf ihm einen besorgten Blick zu. »Seit wann werden Toleranzen denn addiert?«
»Ach«, winkte der Angesprochene grinsend ab. »Früher haben wir sie, wenn es nötig war, sogar multipliziert.«
Weil er den strafenden Blick in seinem Nacken spüren konnte, beeilte er sich zu ergänzen: »Die Kammer liegt im Schatten und in der Windseite. Ich denke, die Schwankung ist ok. Oder meinst du, wir sollten das nochmal überprüfen?«
»Nein, im Moment nicht. Aber behalte sie im Auge und gib sofort Bescheid, wenn sich was ändert.«
Juri wusste natürlich genau so sicher wie sein Kollege dass es unmöglich war in dieser Startphase eine Überprüfung zu veranlassen ohne eine Startverzögerung oder sogar einen Abbruch zu riskieren.
»Wir dürfen doch unsere Gäste nicht enttäuschen,« ergänzte er mit einem Kopfnicken zur gegenüber liegenden Seite des Raums. Dort saßen in zwei Reihen die Nutzlastspezialisten und einige offizielle Beobachter der ESA.
Sie und ihr GIOVE-A-Satellit an der Spitze der Rakete waren Auftraggeber und damit gleichzeitig Kostenträger der heutigen Mission. Er hatte gehört, dass die Europäer für den Start rund 60 Millionen Euro bezahlten.
Offiziell gab es diese Zahl zwar nicht, aber alle Beteiligten wussten, dass man sich von der Zusammenarbeit mit der ESA wichtige Einnahmen versprach.
Und vermutlich hatte Wassili Recht, die betroffene Brennkammer lag in der Wind- und Schattenseite der Rakete und eine etwas zu niedrige Temperaturanzeige war kein Grund zur Besorgnis.
Eine Verzögerung oder sogar ein Abbruch des Starts war in dieser Phase das Letzte, was sich alle der im Kontrollraum Versammelten wünschten.
Und noch viel weniger hatten wohl jemand der Anwesenden Lust darauf, selbst der Grund für einen Startabbruch zu sein. Wenn man dafür auch nicht mehr so wie früher direkt erschossen wurde, so würde es aber mindestens einen ziemlichen Karriereknick verursachen.
Das ganze Unternehmen war auch so schon zwei Tage hinter dem engen Zeitplan.
Wegen eines Heliumlecks, dass die Nutzlastspezialisten der ESA bei der Montage des Satelliten auf der Fregat Oberstufe entdeckt hatten, war man gezwungen Ersatzteile einzufliegen und zu tauschen.
Das hatte den Starttermin um zwei Tage verschoben. Eine weitere Verzögerung würde unter Umständen die ganze Mission gefährden.
Gemeinsam beobachteten sie, wie sich der Versorgungsturm exakt dreißig Minuten vor dem Start in Bewegung setzte und nach sechshundert langen Sekunden Schleichfahrt seine Parkposition erreichte.
Jetzt stand der Flugkörper alleine und nur durch Haltestreben gestützt auf der Startrampe und die meisten Systeme waren auf die Versorgung durch eigenen Batteriestrom angewiesen.
Die nächsten Minuten verbrachten die beiden damit, in einem genau festgelegten Ablauf, die verschiedenen Systeme der gigantischen Sojustriebwerke zu überprüfen und die Startbereitschaft festzustellen.
Alle Anzeigen auf ihren Monitoren blieben grün, und Juri warf Wassili einen letzten fragenden Blick zu.
»OK?«
Der Angesprochene hob den Daumen seiner rechten Hand.
»Alle Werte im grünen Bereich, wie im Lehrbuch« attestierte er und lehnte sich demonstrativ zurück.
Exakt wie im Zeitplan der Startprozedur vorgeschrieben bestätigten sie 360 Sekunden vor dem geplanten Start das OK ihrer Systeme mit einem Knopfdruck an die Hauptkontrolle.
Beiden war klar, dass sie damit ihre Arbeit der letzten Monate für beendet erklärten, und dass sie die nächsten Minuten zur Untätigkeit verdammt auf ihre Monitore starren würden.
In der Mitte des Raums, direkt vor der überdimensionalen Anzeigewand, auf der für alle sichtbar die Startprozedur ablief, saß der Startleiter mit seinen drei Chefingenieuren und erwartete die einlaufenden Fertigmeldungen der verschiedenen technischen Sektionen.
Innerhalb der folgenden sechzig Sekunden wurden dort in festgelegter Reihenfolge alle Bereitschaftsmeldungen gesammelt und dann wie vorgeschrieben die ultimative Startbereitschaft festgestellt.
Jeder im Raum beobachtete die grünen Meldungen der einzelnen Sektionen auf der Anzeigetafel, und alle Anwesenden kannten den nächsten Schritt, der jetzt zwangsläufig folgte. Die Spannung war mit Händen zu greifen und steigerte sich mit jeder Sekunde, die die Startuhr herunter zählte.
Die Anweisung, die der Startleiter seinem neben ihm sitzenden 1. Ingenieur erteilte, war für alle anderen nicht zu hören.
Aber jeder im Raum registrierte die orangene Anzeige die kurz darauf auf der Monitorwand erschien. Sie zeigte an, dass der kleine unscheinbare Schlüsselschalter in der Mitte des Startpultes auf »START« gedreht worden war.
Mit der Betätigung dieses Schalters ging die Kontrolle aller weiteren Abläufe ausschließlich und unwiderruflich auf den Startcomputer über.
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